„Literatur am Dom“Wie aus dem pummeligen Eunuchen ein Literaturstar wurde

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Dincer Gücyeter sitzt im geblümten Hemd vor einem Mikrofon.

Der Schriftsteller Dincer Gücyeter beim Literaturfest in Altenberg

Jürgen Becker musste absagen. Dafür entschädigte auf dem Literaturfest am Altenberger Dom ein Auftritt von Dincer Gücyeter. Und nicht nur das.

Was für eine Erfolgsgeschichte. Geradezu märchenhaft. Und mittendrin: Dincer Gücyeter. Im vergangenen Jahr erhielt der Autor, Verleger und gelegentliche Gabelstaplerfahrer aus Nettetal am Niederrhein den Peter-Huchel-Preis für den Lyrikband „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“. In diesem Jahr folgte der Preis der Leipziger Buchmesse für den Debütroman „Unser Deutschlandmärchen“. Und zuletzt kam der Kurt-Wolff-Förderpreis für seinen Verlag Elif hinzu.

Wie es ihm geht, kann man sich denken: „Es ist schön. Ich bin glücklich.“ Viel mehr möchte Dincer Gücyeter allerdings nicht zur Preiswelle sagen, als er bei „Literatur am Dom“ in Altenberg auftritt. Das Festival im sommerlichen Kräutergarten des Küchenhofs, das die Literaturagentin Karin Graf und der Literaturkritiker Denis Scheck kuratieren, findet zum zweiten Mal statt. Das sei nun also eine Tradition, sagte Sema Sayn-Wittgenstein als Vorsitzende des zuständigen Vereins. Schon gebe es Verabredungen für 2024. Doch erst einmal ging es darum, den aktuellen Jahrgang zu eröffnen.

Ich wusste, es gibt eine andere Welt. Ich wollte unbedingt nach Hamburg fahren, um mit Hildegard Knef etwas zu unternehmen
Dincer Gücyeter

Was nicht einfach war. Denn „in letzter Minute“ hatte Jürgen Becker seinen Auftritt aus gesundheitlichen Gründen abgesagt. Das war umso bedauerlicher, da der 90 Jahre alte Büchnerpreisträger einen Band mit neuen Journalgedichten abgeschlossen hat: „Nachspielzeit“. Joachim Sartorius („Die Versuchung von Syrakus“) und Sabine Küchler lasen einige der Gedichte, die „noch warm“ aus der Schreibküche kamen. Auch vermittelten sie im Gespräch anschaulich die große Kunst ihres Kollegen aus dem rechtsrheinischen Köln. Dazu zählen sie die in Variationen wiederkehrenden Motive, den soghaften Sound und die Erfahrungsintensität: „Gestern kam keine Zeitung / friedliches Frühstück.“

Dem Publikum, das eigens für Jürgen Becker angereist war, wurde zum Trost der Besuch der nachfolgenden Veranstaltung mit Dincer Gücyeter ermöglicht. Diese haben vermutlich alle genossen. Denn der Autor, dem aktuell sämtliche Veranstaltungstüren offenstehen, beantwortete die Fragen mit einer solchen Lust und Frische, als hörte er sie zum ersten Mal. So erzählte er von seiner Kindheit unter Frauen, deren Geschichten er als „kleiner pummeliger Eunuch im Harem“ vernommen habe.

Angela Steidele zuzuhören, ist das pure Vergnügen

Und er erzählte weiter, wie er Schlagertexte auf Bierdeckel schrieb. Wie er Trost fand (und immer noch findet) in den Gedichten von Walt Whitman. Wie ihn die Theaterstücke von Tennessee Williams gelehrt haben, „dass Pathos sehr schön klingen kann.“ Wie er mit der Familientradition brach und sich für die Künste entschieden hat: „Ich wusste, es gibt eine andere Welt. Ich wollte unbedingt nach Hamburg fahren, um mit Hildegard Knef etwas zu unternehmen.“ Oder wie er in geselliger Runde spontan ankündigte, am folgenden Tag den Lyrik-Verlag Elif zu gründen. Von solchen Geschichten handelt das Werk des Autors, der in diesen Tagen vor allem eines ist - glücklich.

Der erste Festivaltag endete mit einem furiosen Schlussakkord. Den setzte nicht das Domgeläut, das zuvor einmal für eine kurze Zwangspause gesorgt hatte, sondern Angela Steidele mit „Aufklärung. Ein Roman“. Darin lässt die Autorin das Leipzig des 18. Jahrhunderts als Hotspot der Musik und der Aufklärung aufleben. Dafür stehen die Lichtgestalten Johann Sebastian Bach und Johann Christof Gottsched. Allerdings spielten auch Frauen eine große Rolle. In dem so aufklärerischen wie humorvollen Roman sind es vor allem Dorothea Bach und Luise Gottsched.

Angela Steidele zuzuhören, ist das pure Vergnügen. Dies liegt zum einen daran, dass sie die Materie, in diesem Fall die Musik und die Philosophie der Zeit, tief durchdrungen hat und hervorragend zu erläutern versteht. Zum anderen präsentiert sie ihre Lesepassagen als vielstimmiges Hörstück: mal sächselnd und mal singend, mal augenrollend und mal mit ausgestreckten Armen. Moderatorin Sabine Küchler, die bestens präpariert alle drei Veranstaltungen des Festival-Auftakts begleitet hat, fasste es korrekt zusammen: „Ein Ereignis.“

Das Festival „Literatur am Dom“ in Altenberg endet am Sonntag.

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