Netflix-DokumentationWas Robbie Williams im Schlüpfer alles auspackt

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Der britische Musiker Robbie Williams in einer Szene der Miniserie «Robbie Williams» (undatierte Filmszene). Die Dokumentation läuft ab 08.11.2023 bei Netflix.

Robbie Williams in einer Szene der Netflix-Miniserie „Robbie Williams“

„Robbie Williams“ heißt eine vierteilige Dokumentation über den britischen Sänger, in der er schonungslos mit seinen Höhen und Abstürzen abrechnet. 

Nach knapp dreieinhalb Stunden „Robbie Williams“ – die vierteilige Netflix-Doku trägt als Titel schlicht den Namen ihres Protagonisten – bleiben drei Bilder im Kopf: Die erste Aufnahme zeigt den Star im Sommer 2006. Er klammert sich an einen Aufzug-Tritt unter der Bühne, der ihn auf achterbahnartigen Schienen durch eine Art Geburtskanal direkt auf ein Podium hebt, inmitten von zehntausenden, „Robbie“-rufenden Fans.

Es ist die größte Tour seiner Karriere, 93 Trucks transportieren die Aufbauten von Stadt zu Stadt, oft reichen die örtlichen Stadien nicht aus, um die Massen zu fassen, in Köln tritt Williams an zwei Abenden hintereinander auf der Jahnwiese auf.

Er ist auf dem Gipfel, aber egal, wo er hinschaut, es geht bergab. In Großbritannien hat er gerade seinen neuen Song „Rudebox“ veröffentlicht, auf dem er über einen piependen Casio VL-1-Synthesizer (man kennt ihn aus Trios „Da Da Da“) rappt. Die Boulevardblätter zerreißen „Rudebox“ als „schlechteste Single aller Zeiten“. Robbie Williams frisst den Hass der heimischen Presse in sich hinein. Sein Körper lässt ihn im Stich. Er lässt sich gegen den Rat seiner engsten Mitarbeiter Steroide spritzen. „I'm on steroids, the doc just gave me steroids“, singt er anschließend vor der Menge. Er war schon immer ein offenes Buch, der Dokumentation hilft das ungemein.

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Das zweite Bild begleitet den Zuschauer über die gesamte Strecke der Dokumentation: Es zeigt den ergrauten Popstar, der sich die Backstage-Version seines Lebens auf einem Laptop anschaut, in der heimischen Villa in Los Angeles, auf seinem Bett, nur mit Unterwäsche bekleidet.

Lady Gaga zeigte sich in ihrer Dokumentation „Gaga: Five Foot Two“ (2017) beim Businessmeeting oben ohne am Pool, aber Robbie Williams im schwarzen Schlüpfer toppt das locker. Selbstredend betreiben solche scheinbar enthüllenden, aber vom jeweiligen Star autorisierten Dokus, wie man sie auf den verschiedenen Streamingdiensten inzwischen dutzendweise abrufen kann, vor allem Imagepflege.

„Robbie Williams“ verspricht intimes Filmmaterial aus drei Jahrzehnten

Joe Pearlman, der hier Regie führt, ist so etwas wie ein Experte für strauchelnde Stars, er hat unter anderem den Karriereknick des Pop-Duos Bros, die Bühnenängste des Sängers Lewis Capaldi und das Leben der „Harry Potter“-Stars nach dem Kinderruhm dokumentarisch begleitet. Stets mitfühlend und ohne übermäßige Sensationslust.

Für „Robbie Williams“ verspricht er intimes Filmmaterial aus drei Jahrzehnten, das in manchen Fällen selbst Williams zum ersten Mal sieht. Das ist nicht gelogen. Und dennoch lässt Pearlman Etliches aus: Über Williams Herkunft, Eltern, Freunde, Verwandte, erfährt man exakt nichts. Was freilich auch daran liegt, dass das eigentliche Thema hier der Abgrund ist, der zwischen öffentlicher und privater Person klafft.

Also begegnen wir dem jungen Schulabbrecher zum ersten Mal 1990 in Manchester, als er bereits als jüngstes Mitglied der Boyband Take That im Rampenlicht steht. Williams gibt den Joker des Quintetts, aber innerlich, erzählt der fast 50-Jährige, habe er sich wie im Dampfkochtopf gefühlt: zu viele Interviews, zu viele Auftritte, zu viele Fans. Der ganze Druck des Erwachsenenlebens, ohne die Verantwortung, die man nur Schritt für Schritt lernen kann.

Robbie Williams poses for photographers upon arrival at the premiere for the Robbie Williams documentary on Wednesday, Nov. 1, 2023 in London. (Vianney Le Caer/Invision/AP)

Robbie Williams posiert auf der Premierenfeier zur Dokumentation.

Als er die Band 1995 verlässt, um nicht als Junkie herausgeworfen zu werden, hat er kein Selbstwertgefühl und sein Leben keine Richtung, nur Groll gegen die unmittelbare Vergangenheit. Als eine seiner Töchter zu ihm ins Bett krabbelt und mit kindlicher Direktheit fragt, wen von seinen Bandkollegen er am meist gehasst hätte, antwortet er wahrheitsgemäß „Gary“. Dann schickt er sie fort, weil das, was als Nächstes kommt, noch nichts für ihr Alter sei.

Anfang 20, ein Auslaufmodell und aufgedunsenes Wrack. „Schwer anzuschauen“, kommentiert Williams 30 Jahre später und klappt den Laptop zu. Das passiert im Laufe dieser Bilanz immer wieder. Fast fragt man sich, warum sich Williams das bloß antut? Und ob das Filmmaterial wirklich kathartisch wirkt, oder nicht doch eher retraumatisierend?

Die Geschichte ist bekannt: Wie der noch saufende und koksende Ex-Boybandler auf den erfolglosen Songschreiber Guy Chambers trifft, wie allen Widrigkeiten zum Trotz die kreativen Funken sprühen, wie nach einigen vergeblichen Anläufen die vierte Single „Angels“ den Ernüchterten in ungekannte Höhen katapultiert. Jetzt kreischen die Fans wieder vor seinem Fenster. Ob er sich nicht manchmal ein normales Leben wünsche, will ein Journalist wissen. „Das ist das normale Leben“, antwortet Williams.

Nichts sei normal gewesen, sagt Robbie Williams heute

Was der gereifte Star revidiert. Nichts sei normal gewesen. Nicht die Paparazzi, die ihm in Kolonnen folgten, sobald er nur das Haus verließ, nicht die sich über Kilometer erstreckenden Menschenmassen, die von ihm unterhalten werden wollen. In Knebworth präsentiert er sich vor 365.000 Fans an den Füßen aufgehängt in der Luft baumelnd, ein Möchtegern-Houdini, der nicht weiß, wie er sich vom Ruhm befreien kann.

Während eines Konzerts in Leeds ereilt ihn eine Panikattacke. Er kann nicht mehr. Aber er singt weiter. Am nächsten Tag soll er trotzdem wieder auf die Bühne. Etwas zerbricht. Sein Manager weint, weil er schon ahnt, was als Nächstes kommt: Depression, Alkohol, Kokain, Oxycodon, was auch immer zum Betäuben taugt. Der Williams, der jetzt vom Laptop aufblickt, schaut wie ein geschlagenes Tier direkt in die Kamera: Muss er sich das antun? Das ist das dritte und stärkste Bild, das sich dem Zuschauer einprägt.

Am Ende wird, wie das bei solchen Star-Dokumentationen eben so ist, alles gut. Er lernt seine Frau Ayda kennen, die ihm sein Leben zurückgibt. Söhnt sich mit seinen alten Take-That-Kollegen aus. Genießt das Vaterleben mit vier Kindern.

Aber es bleibt die Traurigkeit. Als Robbie Williams endlich vom Bett aufsteht, sich anzieht und seine Sachen packt, um als geliebter Altstar auf Tour zu gehen, verabschiedet er sich schweren Herzens von seiner Familie. Seine Tochter hält ihn heulend fest. Er gehört ihr nicht allein. Drei Jahre lang hätte sie mit Rob verbringen dürfen, erzählt Ayda Williams, die einzige andere Person, die hier direkt in die Kamera sprechen darf, bevor sie Robbie kennenlernte: „Der ist eine völlig andere Person.“

„Robbie Williams“, 200 Minuten, ab sofort auf Netflix

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