Der Historiker Ulrich Fischer leitet seit einem halben Jahr das Kölner Stadtarchiv. Ein Gespräch über digitalen Wandel und die Folgen des Einsturzes.
Neuer Leiter des Stadtarchivs Ulrich Fischer„WhatsApp-Nachrichten sind die hohe Schule“

Ulrich Fischer ist seit Juli 2025 neuer Leiter des Kölner Stadtarchivs.
Copyright: Thilo Schmülgen
Herr Fischer, seit diesem Juli leiten Sie das Historische Archiv mit Rheinischem Bildarchiv. Trotzdem sind Sie nicht neu im Haus, denn Sie waren bereits seit 2006 sein stellvertretender Leiter. Warum haben Sie sich damals für Köln entschieden?
Aus meiner Sicht als Mittelalterhistoriker ist Köln ein ganz besonderer Ort. Köln war die bei weitem größte Stadt im damaligen Reichsgebiet und wichtige Handelsstadt. Das Stadtarchiv hat sehr umfassende Bestände zum Mittelalter und zur Frühen Neuzeit. Da sind unglaublich wertvolle Objekte zusammengekommen, die weit über das Stadtgebiet Bedeutung hatten. Ein gutes Beispiel ist Albertus Magnus, der hier Dominikanermönch war und gleichzeitig viel in Westeuropa unterwegs war. Er war eine europäische Geistesgestalt. Von ihm haben wir hier zwei Handschriften, die er selbst geschrieben hat. Genau solche Menschen tauchten eben in Städten wie Köln auf. Das finden Sie nicht in jedem Archiv.
Sie sind nun seit einem halben Jahr in Ihrem neuen Amt. Welche Themen wollen Sie angehen?
In einer Sache sehe ich mich in einer gewissen Kontinuität. Das betrifft eine ganz konsequente Nutzerorientierung, die wir hier haben. Die Tradition in den deutschen Archiven war, sich an der akademischen Geschichte auszurichten. Das ist seit einiger Zeit nicht mehr so, denn meine Vorgängerin hat ganz bewusst gesagt, die Nutzung soll für alle und auch im gleichen Maße für alle Fragestellungen offenstehen. Das möchte ich unbedingt so beibehalten. Da wird es keine Abwägung geben, ob jemand Professor ist und etwas für sein 17. Buch braucht oder ob jemand ein Haus gekauft hat und nach Plänen für den Vorgängerbau sucht, um zu wissen, wo denn der Keller genau liegt.
Nutzerverhalten wird digitaler
Und was wollen Sie anders machen?
Das Nutzerverhalten ändert sich gerade entschieden, es wird sehr viel digitaler und das Verständnis für das analoge Archiv als Suchraum, geht damit etwas verloren. Früher hatte man ein grobes Thema, ging ins Archiv, bekam eine Menge Akten auf den Tisch und musste sich durchwühlen. Heute geben Sie eine Frage in den Chatbot ein oder suchen einen Namen auf Google und erhalten ein paar Resultate. Aber ich kann Ihnen versichern, wenn Sie Archivgut suchen, haben Sie damit noch lange nicht alles gefunden. Eine Mission für alle Abteilungen in diesem Haus wird deshalb sein, erstens unsere Erschließung so zu verbessern, dass das Ergebnis besser wird und zweitens auch zu vermitteln, dass eine Archivbenutzung mehr sein kann als sich nur das anzugucken, was man digitalisiert im Netz findet.
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Heute werden anstelle von Briefen E-Mails oder WhatsApp-Nachrichten, statt Visitenkarten, Instagram-Namen ausgetauscht. Planen Sie als Stadtarchiv auch so etwas wie „digitale Nachlässe“ zu bewahren?
Das Historische Archiv mit Rheinischem Bildarchiv betreibt seit 2015 ein digitales Archiv. Für digitale Überlieferung sind wir also bereits gut aufgestellt. Denke ich an Nachlässe, bereiten mir aber unsere heutigen Korrespondenzen große Sorgen, die über Mail oder Messenger, und nicht mehr in Briefform abgewickelt werden. Aus Archivarssicht sind gerade WhatsApp-Nachrichten die hohe Schule. Dafür gibt es aktuell noch keine Archivlösung. Ich hätte die super gerne. Ich denke da immer wieder an Frau Merkels berühmtes Bundestelefon. Ich glaube nicht, dass die SMS, die sie darüber verschickt hat, im Bundesarchiv angekommen sind, aber vieles davon werden künftige Generationen Forschender sehen wollen. Mit Mails kommen wir mittlerweile ganz gut klar. Und auch alles Weitere, was Sie an Dokumenten auf Ihrem Rechner erzeugen, ist überhaupt kein Problem. Das übernehmen wir regelmäßig. Die etwas jüngeren Fotografen oder Architekten zum Beispiel haben alle mindestens einen Teil ihres Schaffens als digitale Bild- oder CAD-Dateien für Architektenzeichnungen. Damit müssen wir dann umgehen. Das ist super spannend.
95 Prozent des Archivgutes gerettet
Der Einsturz des Stadtarchivs hat 2009 die ganze Stadt erschüttert. Sie waren danach für „Grundsatzfragen und Wiederaufbau des Historischen Archivs“ zuständig. Wie ist der heutige Stand der Aufarbeitung?
Der 3. März 2009 war in jeglicher Hinsicht ein gravierender Einschnitt. Zwei junge Männer sind bekanntermaßen umgekommen. Da lagen plötzlich ein Archivgebäude und die beiden Nachbarhäuser auf der Straße. Das war absolut unvorstellbar. Dass wir dann drei, vier Tage danach, als die ersten Archivalien wieder auftauchten, bis letztlich ins Jahr 2011, bergen konnten – mit viel internationaler Unterstützung und vielen Bürgerinnen und Bürgern der Stadt – hat dazu geführt, dass wir heute mehr als 95 % des Archivgutes wieder haben. Was wir auch zu meinen Dienstzeiten nicht genau wissen werden, ist, was uns eigentlich am Ende des Tages verloren gegangen ist. Es wird wenig sein. Aber die Dinge, die Beschädigungen aufweisen oder nicht mehr vollständig sind, wieder richtig zuzuordnen, wird noch lange dauern.
Wie gehen Sie da vor?
Wir arbeiten uns vom Einfachen zum Komplizierteren vor. Gut zwei Drittel haben wir abgeschlossen. Da wissen wir, was wir wieder haben. Heißt aber auch, bei einem Drittel wissen wir es noch nicht. Da gibt es wiederum unterschiedliche Stufen des Nichtwissens: Von Fragmenten, zu denen wir überhaupt nichts sagen können, bis hin zu Akten, von denen wir beispielsweise sagen können, das ist Sozialverwaltung 1970er Jahre, aber wir wissen nicht mehr genau, welche Signatur sie hatten. Eine besondere Herausforderung sind die Archivalien, die tatsächlich zerrissen sind, eine einstellige Millionenanzahl – genau weiß es keiner – von Schnipseln und Fragmenten.
Köln wird zum Vorbild
Haben Sie aus dem Einsturz Lehren für Ihre Archivarbeit gezogen?
Manches machen wir notgedrungen anders. Die Lagerung zum Beispiel. Bis zum Einsturz hat man, was zusammen ins Archiv übernommen wurde, auch zusammen gelagert. Das geht jetzt nicht mehr, deswegen haben wir eine dynamische Lagerung eingeführt. Dann haben wir festgestellt, dass es beispielsweise nicht funktioniert, Material, das man gerade zur Reinigung in der Hand hat, auch gleich noch zu digitalisieren, weil Sie immer irgendwo einen Flaschenhalseffekt haben. Deswegen entkoppeln wir unsere Prozesse. In einigen Arbeitsbereichen können wir durch unsere Erfahrungen auch für andere etwas zurückgeben. Im Kulturgutschutz etwa, sind wir seit 2009 ganz anders aufgestellt und durchaus führend in Deutschland. Der „Kölner Abrollcontainer Kulturgutschutz“ kam zum Beispiel auch bei der Ahrflut zum Einsatz. Dort hat er sich bewährt, sodass nun bundesweit vergleichbare Rettungseinheiten für bedrohtes Kulturgut beschafft werden.
Die Restaurierungsmaßnahmen kosten nicht nur viel Zeit, sondern auch Geld. Wie sind Sie aktuell finanziell aufgestellt?
Ein Gutachter hat 2018 festgestellt, dass es zu damaligen Preisen rund 627 Millionen Euro kosten sollte, alles wieder herzustellen. 2020 haben die Stadt und die KVB sich bekanntermaßen gemeinsam mit den Bauunternehmern verglichen und eine Zahlung von 600 Millionen Euro erhalten. Davon hat man abgezogen, was schon bezahlt worden war, dann sind ungefähr 450 Millionen übriggeblieben und als Rückstellung eingestellt worden. All das, was wir an Bearbeitung der Einsturzschäden machen, wird darüber abgedeckt. Für alles Weitere hängen wir am städtischen Haushalt.
Sie sind zum Teil also auch von der Haushaltssperre betroffen?
Ja, dementsprechend betrifft das auch all die Dinge,, die nicht zum gesetzlich verpflichtenden Grundauftrag unserer Arbeit gehören. Alles, was nicht Arbeit nach Archivgesetz ist, müssen wir sehr genau hinterfragen und gucken, ob wir dafür Geld ausgeben dürfen.
Es gibt immer mehr Versuche, die Geschichte aus einem bestimmten Blickwinkel zu zeigen.
Nicht zuletzt durch künstliche Intelligenz ist es leichter denn je Dokumente, Belege, Fotos, Nachrichten zu fälschen. Was muss ein Archiv heute leisten?
Wir Archive haben seit jeher die Aufgabe und Fähigkeit, Fälschungen von Originalen – ob früher bei Pergamenturkunden oder heute bei digitalen Fotografien – zu unterscheiden. Ich bin sehr froh, dass die Archive in Deutschland mindestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Rolle übernommen haben, als Wissensspeicher faktenbasierte, schriftlich nachvollziehbare und authentische Informationen bereitzuhalten – für jedermann. Das ist unsere Aufgabe, die im Archivgesetz so festgelegt ist. Dabei geraten wir aber mehr und mehr unter Druck, weil es immer mehr Versuche gibt, die Geschichte, das eigene Herkommen aus einem bestimmten Blickwinkel zu zeigen. Donald Trump hat den staatlichen Museen verordnet, sie mögen die „Greatness“ von Amerika endlich wieder zeigen. Und nach seinem Verständnis gehören bekanntlich die Sklaverei oder die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre nicht dazu.
Und das betrifft auch die Archive?
Ja, gerade erst haben internationale Archivar-Kolleginnen und Kollegen bei einer Tagung hier im Haus in den unterschiedlichsten Arten und Weisen darüber berichtet, wie man Einfluss auf ihre Arbeit nimmt – perspektivisch auch auf die Bewertungsentscheidungen. Die Archivarinnen und Archivare entscheiden nach objektiven Kriterien unabhängig, welche Dokumente und Objekte sie übernehmen. Aber das kann man natürlich auch einschränken. Denken Sie an die Diskussion, was mit den Dingen aus der ersten Präsidentschaft von Trump passierte, die er mit nach Mar-a-Lago genommen hat, dort auf irgendeiner Toilette lagerte und sich weigerte, sie an das Nationalarchiv herauszugeben. Das sind Diskussionen, denen wir uns immer stärker entgegenstellen werden müssen.
Sie haben eine sehr große Bandbreite an Beständen. Haben Sie ein persönliches Lieblingsstück?
Albertus Magnus hat mehrfach zwischen Erzbischof und Stadtgemeinde Verhandlungen in Streitfragen zum Ziel gebracht. Ein Verhandlungsergebnis wurde 1258 in einer sehr, sehr großen Urkunde festgehalten, die ist ungefähr so groß wie ich. Sie heißt „Der große Schied”, aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, und regelt alle möglichen Fragen, die in der Zoll- und Gelderhebung, im Münzwesen in dieser Zeit strittig waren. Allein vom Format ist die Urkunde schon sehr beeindruckend, aber auch inhaltlich. Im alten Archiv war sie gerahmt, dieser war aber über zwei Meter groß und relativ schwer. Er stand im Atombunker unter dem Archivbau. Am Einsturzabend 2009 räumte die Feuerwehr aus den noch stehenden Kellerräumen alles raus, was man irgendwie bewegen konnte und nun standen sie vor diesem zwei Meter Objekt und mussten es durch die sehr engen Gänge rausbewegen. Es gab zwei Notausgänge, die waren allerdings jeweils nur einen Meter breit und man musste 180 Grad um die Kurve. Das mit diesem Stück zu bewerkstelligen, war eine gewisse Herausforderung. Es ist heil rausgekommen, aber wir haben daraus gelernt, wenn man Notausgänge baut, dann bitte nur so, dass man auch die eingelagerten Gegenstände da durch transportieren kann.

