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„Panorama Waidmarkt“Beste Aussicht auf ein Kölner Katastrophengebiet

Lesezeit 4 Minuten
Blick in den von Observatorium entworfenen Panorama-Pavillon am Kölner Waidmarkt

Blick in den von Observatorium entworfenen Panorama-Pavillon am Kölner Waidmarkt

Am Waidmarkt wird des Archiveinsturzes mit einem Gedenkort, vielen Veranstaltungen und einem kollektiven Trauerbuch gedacht.  

Als Helfer in deutsche Katastrophengebiete zu gehen, gehört für die Mitglieder der niederländischen Künstlergruppe Observatorium beinahe zum täglichen Geschäft. Im ausgehöhlten Ruhrgebiet bauten sie eine schlafende Brücke neben den Abwasserkanal, der vor der Industrialisierung die Emscher war, um uns das Warten auf die Rückkehr des renaturierten Flusses zu verkürzen; und in Neukirchen-Vluyn setzten sie das stählerne Skelett einer Scheune auf eine im „brennenden“ Kern vor sich hin schwelende Halde – als symbolische Pioniertat für die Wiederbesiedelung der zerstörten Erde.

Auch der Kölner Waidmarkt wartet auf seine Wiederbelebung

Auch der Kölner Waidmarkt wartet auf seine Wiederbelebung, seitdem am 3. März 2009 in unmittelbarer Nachbarschaft das Historische Stadtarchiv in eine Baugrube stürzte, zwei Häuser mit sich riss und zwei Menschen unter sich begrub. Nach Abschluss des Strafprozesses ist aus dem versiegelten Tatort zwar wieder eine U-Bahn-Baustelle geworden, aber ein Ort, an dem man des Unglücks gedenken kann oder sich einfach nur länger aufhalten mag, sieht anders aus. Die Stadt tat wenig, um aus dem Katastrophengebiet wieder einen begehbaren Platz zu machen; Gedenken und Re-Urbanisierung wurden von Bürgerinitiativen organisiert.

Seit einigen Wochen ist Bewegung auf den Waidmarkt gekommen – wiederum auf bürgerliche Initiative, aber immerhin im Auftrag der Stadt. Andre Dekker von Observatorium entwarf einen hölzernen Pavillon, der einen Rundum-Ausblick auf die Unglücksstelle, die Kirche St. Georg und die hoch aufgeschossene Bauherrenarchitektur im Norden und Westen des Areals erlaubt, wenn die 24 Türen des Baus geöffnet sind. Dekkers Panorama-Pavillon ist vieles auf einmal: urbane Skulptur und Sitztreppe, Konzertbühne und Begegnungsstätte, Künstleratelier und öffentliche Bibliothek - und vor allem ein Archiv auf Zeit, in dem Besucher ihre Erinnerungen und Gedanken zum Archiveinsturz hinterlassen können.

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Blick auf den Waidmarkt aus dem Inneren des Panorama-Pavillons

Blick auf den Waidmarkt aus dem Inneren des Panorama-Pavillons

In unregelmäßigen Abständen wechselte der Anfang Mai eröffnete Pavillon seine Funktion: In der ersten Juniwoche zeichnete Marja Zoomer Porträts der Besucher (wenn diese es wollten), am 3. Juni sprach Kay von Keitz, Kurator des Projekts, mit der Autorin Monika Rink, am 10. Juni kam der reisende Künstler Ivo Weber mit seinem Esel vorbei und am 12. Juni begannen Boris Sieverts und Martin Stankowski hier ihre Führung durch den Untergrund am Waidmarkt (minus der Baustelle). In einer Hinsicht bleibt sich der Pavillon allerdings stets gleich: Zwischen 12 und 18 Uhr ist täglich außer montags immer jemand vor Ort, um mit Menschen über das Stadtarchiv ins Gespräch zu kommen.

Der Pavillon schafft Raum und Zeit für Aufmerksamkeit
Andre Dekker vom Künstlerkollektiv Observatorium

Wo das Gedächtnis der Stadt buchstäblich in Trümmern lag, soll nun wenigstens die Erinnerung an das eingestürzte Stadtarchiv wachgehalten werden. Am Ende jedes Tages halten Dekker und/oder die anderen Gastgeber die Gespräche in einem Archivbuch fest, in einem zweiten „Logbuch“ können die Besucher selbst ihre Gedanken zu Papier bringen. Beide Sammelbände gehen nach Abschluss des Projekts am 29. Juni ins neu errichtete Historische Archiv der Stadt Köln ein.

„Der Pavillon schafft Raum und Zeit für Aufmerksamkeit“, sagt Andre Dekker, der als Künstler, der Ausstellungsflächen für seine Kunst entwarf, begann, und die Kunst kurz entschlossen wegließ, weil den Besuchern seine offene Architektur besser gefiel. Auch der Waidmarkt-Pavillon ist ein kleines Wunderwerk: einladend, selbst an Hitzetagen angenehm frisch, einfach und doch bis ins kleinste Detail durchdacht. Sämtliche Einbauten stehen in der Flucht des Mittelpunktes, sodass die Panoramaperspektive bei geöffneten Türen kein leeres Versprechen bleibt. Selbst für den Domblick hat Dekker gesorgt; auch wenn man dafür an den äußersten Rand des Vorbaus treten muss.

Anders als in den künstlichen Panoramen des 19. Jahrhunderts ist die Aussicht in Dekkers Pavillon teilweise trist: Nichts gegen St. Georg, aber gegen die bewährte kölnische Mischung aus seelenloser Bauherrenarchitektur und grässlicher Stadtmöblierung kommt kein romanischer Baumeister an. Allerdings gibt es in Sichtweite der Archiveinsturzstelle auch nichts zu beschönigen, und wenn der Alpdruck der urbanen Wirklichkeit zu groß wird, lässt sich der offene Gastraum mit wenigen Handgriffen in eine Schreibstube verwandeln. Das Ideal seiner Architektur, sagt Dekker, sei die Gelehrtenkammer auf offener Bühne. Am Waidmarkt kommt er diesem schon sehr nah. Hier schreibt der kollektive Geist der Stadt ein Trauerbuch.


Nächster Termin: Konzert mit dem Polizeifrauenchor Köln und Jürgen Becker, Sonntag, 15. Juni, 15 Uhr.