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Oper KölnHier wird die ganze Menschheit angeklagt

Lesezeit 4 Minuten
Patrycia Ziolkowska und Sebastian Blomberg stehen leicht gebückt in der Opernkulisse. Sie tragen weiße T-Shirts und schwarze Hosen. Eine Frau filmt sie.

Patrycia Ziolkowska und Sebastian Blomberg in „Die letzten Tage der Menschheit“ 

Philippe Manourys Oper „Die letzten Tage der Menschheit“ nach Karl Kraus' gleichnamigen Riesendrama feiert in Köln ihre Uraufführung. 

Die gegenwärtigen Kriege und Krisen erwecken den Eindruck apokalyptischer Zeiten. Täglich hört, sieht und liest man von Raketenbeschuss, Bombardements, hunderten Toten und Verletzten. Neue Aufrüstung soll noch schlimmere Konflikte verhindern. Doch wohin führen diese Entscheidungen? „Niemand will Krieg, außer die ihn gewollt haben, und die muss man bekriegen.“ Es geht darum, „Krieg anzufangen, um Kriege zu beenden.“ Philippe Manoury bezieht sein gut dreistündiges Musiktheaterwerk „Die letzten Tage der Menschheit“ nach dem gleichnamigen Riesendrama von Karl Kraus mit solch hinzugefügten Widersprüchen ausdrücklich auf unsere Gegenwart.

Mit Patrick Hahn und Regisseur Nicolas Stemann kondensierte der 1952 geborene französische Komponist das unaufführbare Krausʼsche „Marstheater“ von achthundert Seiten Text mit mehreren hundert Figuren in 219 Szenen auf ein „Thinkspiel in zwei Teilen“. Opernhafte Arien, Ensembles, Chöre, Orchesterpassagen und Elektronik treffen auf Videoprojektionen, Textrezitation und Schauspiel. Daher die begriffliche Anlehnung an das deutsche Singspiel. Die Uraufführung an der Oper Köln beweist die erschreckende Aktualität der Umstände und Ereignisse des Ersten Weltkriegs, die der strenge Chronist einst auf der Grundlage zahlloser Zitate aus Zeitungen, Ansprachen, Briefen, Caféhaus- und Stammtischgerede dokumentierte und zu einem Pandämonium aus Verblendung, Fanatismus, Opportunismus und unmenschlicher Brutalität versammelte.

Karl Kraus' 800-seitiges Drama kondensiert Philippe Manoury auf gut drei Stunden Musiktheater

Drei Orchestergruppen unter Leitung von Peter Rundel füllen die Bühne im Staatenhaus. Düstere Akkorde ersticken gleich im Vorspiel bleischwer alle Farbe, Harmonik und Melodie wie in feldgrauem Morast. Die schicksalhaft lastenden Leitakkorde erscheinen immer wieder als drohendes Fatum, das keiner wollte und in das dennoch alle begeistert rannten, um plötzlich inmitten des Untergangs zu erwachen. Die beiden Kraus-Alter Egos „Der Optimist“ und „Der Nörgler“ werden von Patrycia Ziolkowska und Sebastian Blomberg schauspielerisch großartig verkörpert. Ihre Reflexionen dominieren das überwiegend epische Geschehen und entlarven vom Ende des Weltkriegs 1918 rückblickend die brutale Sinnlosigkeit des millionenfachen Schlachtens. Der erste Hauptteil schildert dann die Ereignisse chronologisch ab Juli 1914 mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers und der Kriegserklärung an Serbien, die durch internationale Garantieerklärungen den Weltenbrand auslöste.

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Zu aufgebahrten Särgen und Ansichten des alten Wien rasseln Militärtrommeln und kreischen Bläser. Fotos von Kriegsbegeisterung, Grabenkämpfen und Feuergefechten werden von erneuten Katastrophen-Akkorden und metallisch klirrendem Schlagwerk grundiert. Zu blutenden Menschen im Lazarett ertönt als Totentanz ein schleppender Walzer. Oft tritt das Orchester jedoch hinter der Fülle an Sprache und Ereignissen als nebensächliche Begleitung zurück. Ständig wechseln Stimmen, Personen, Szenen, Perspektiven. Vieles geschieht gleichzeitig, überfordert die Aufnahmefähigkeit, eskaliert zum Trommelfeuer aus Texten, Bildern, Klängen, Aktionen: ein Kraus gemäßes Kaleidoskop der Katastrophe. Manoury lehnt sich an dessen Montageprinzip an, nimmt dem dokumentarischen Material durch Ästhetisierung jedoch seine Schonungslosigkeit.

Anne Sofie von Otter singt im langen weißen Kleid auf dem Gestänge des Bühnenbilds.

Anne Sofie von Otter als Angelus Novus

Die vom Pariser IRCAM bereitgestellte Elektronik feuert dumpfe Granaten und zischende Schrapnells durch den Saal, wirkt aber harmlos und halbherzig, nicht zu vergleichen mit immersiven Soundtracks von Kriegsfilmen wie Steven Spielbergs „Saving Private Ryan“ (1998) oder gar tödlicher Realität. Kinder spielen Krieg und streiten mit korrektem Militärjargon, wer getroffen wurde, tot ist oder gesiegt hat. Die Groteske der Kleinen nimmt die opernhafte Szene im Großen vorweg. Mit Marschgepäck geht es immer schnelleren Schritts an die Front, bis mit einem Schlag alle tot umfallen und das Englisch Horn über den Leichen eine traurige Weise anstimmt. Der Chor singt Märsche und verkörpert Gewalt, Masse, Macht, Klage und Anklage. Über allem Gemetzel und banalisierendem Geschwätz wandelt auf Metallgerüsten im Bühnenbild von Katrin Nottrodt enthoben als mahnende Instanz der Engel der Geschichte „Angelus Novus“, gesungen von Anne Sofie von Otter.

In der Fülle der Figuren prägen sich nur wenige ein. Die meisten bleiben flüchtig, erscheinen und vergehen. Schließlich geht es nicht um Einzelschicksale, sondern ist insgesamt die Menschheit der Antiheld dieser Tragödie. Die vierzehn Solosängerinnen und -sänger übernehmen bis zu acht verschiedene Rollen. Herausragend ist Emily Hindrichs. Mit ihrem strahlenden Sopran ist sie mal Mutter, die ihr totes Kind betrauert, mal im rosarot aufgebrezelten Ballkleid die sensationsgeile Kriegsjournalistin „Die Schalek“, die zynisch das „freigewordene Menschentum“ der von Schlamm und Ungeziefer in den Unterständen zerfressenen Soldaten mit vor Begeisterung ekstatisch sich überschlagenden Spitzentönen feiert: Es ist der blanke Hohn auf alles Leiden, Hungern, Dursten, Erfrieren, Verbluten, Sterben.

Der zweite Teil zeigt die Menschen zu Bestien vertiert. Der Krieg hat sie zu leichenfressenden Raben und fauchenden Hyänen gemacht. Gasmasken verzerren die Gesichter zu Fratzen und ersticken Sprache und Gesang. Claudia Lehmann und Konrad Hempel zünden in ihren Videos ein Feuerwerk aus überwältigender Militärmacht und Zerstörungskraft, die vom domestizieren Feuer der ersten Hominiden bis zur Atombombe und dem Napalm-Inferno über Vietnam immer weiter zunimmt. Zu sehen sind auch die Tarnkappen-Bombern der US Air Force, die erst jüngst auf iranische Atomanlagen zielten. Wie die endlose Serie immer neuer Kriege findet auch das Bühnenspektakel keinen Schluss. Wie auch? Bevor das Geschehen vollends in Richtung Naturzerstörung, Ökozid und Klimakrise zerfasert, mahnen Stimmen der „ungeborenen Kinder“ ein letztes Mal zum Frieden. Und bei allen Schwächen liegt genau darin die Stärke dieser Apokalypse Now.