Komponist Philippe Manoury adaptiert in seinem „Thinkspiel“ an der Oper Köln Karl Kraus' Riesendrama. Die Uraufführung ist am 29. Juni.
„Die letzten Tage der Menschheit“Wie wird aus einer unaufführbaren Tragödie eine Oper?

Szene aus „Die letzten Tage der Menschheit“
Copyright: Sandra Then
Karl Kraus zeigt in seinem Riesendrama „Die letzten Tage der Menschheit“ das unselige Zusammenspiel von Religion, Erziehung, Politik, Propaganda, Medien und Profitgier während des Ersten Weltkriegs. Anhand einer Überfülle an Zitaten lässt der Herausgeber und fast alleinige Autor der Zeitschrift „Die Fackel“ auf achthundert Seiten hunderte Personen, lebende wie tote, in 219 Szenen an zahllosen Schauplätzen auftreten.
Eine Aufführung des apokalyptischen „Marstheaters“ würde zehn Abende umfassen. Nun hat daraus der französische Komponist Philippe Manoury mithilfe der Librettisten Patrick Hahn und Nicolas Stemann (auch Regisseur) eine Oper gemacht. Uraufgeführt wird diese am 27. Juni an der Oper Köln im Staatenhaus.
Manoury, Stemann und Hahn arbeiteten bereits bei „Lab.Oratorium“ zusammen, 2019 vom Gürzenich-Orchester uraufgeführt. Schon damals kam die Idee auf, Krausʼ unaufführbare Tragödie für die Oper zu adaptieren. Warum gerade diese Vorlage? „Wir leben in apokalyptischen Zeiten“, so Manoury. „Wenn wir Reden des US-Präsidenten Trump hören, dann ist das genau das, was in Krausʼ Buch steht: Trump dankte nach der Bombardierung des Iran seinem General, Netanjahu und auch Gott. Wieder ist Gott im Krieg!“
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Wieder wird Krieg zum Spektakel, zur Unterhaltung, zur Show. Und wir verlieren dadurch den Bezug zur Realität, dass Menschen sterben.
Und abermals sprechen Fachleuten in Nachrichten mit großer Neugierde und Begeisterung von Waffensystemen und Militärstrategien. „Wieder wird Krieg zum Spektakel, zur Unterhaltung, zur Show. Und wir verlieren dadurch den Bezug zur Realität, dass Menschen sterben. Kraus ist ganz eng an der Realität.“ Wie dessen Drama möchte Manoury in seiner Oper zeigen, dass die Menschheit unfähig ist, sich von der Geißel des Krieges zu befreien.
Mit dem Regisseur Nicolas Stemann hatte der 1952 geborene Komponist schon das Musiktheaterstück „Kein Licht“ nach Elfriede Jelinek bei der RuhrTriennale 2017 realisiert. „Damals ging es“, so Patrick Hahn, „um die atomare Katastrophe von Fukushima. Dann handelte ‚Lab.Oratorium‘ von ertrinkenden Flüchtlingen im Mittelmeer. Und nun wollten wir erneut ein Thema unserer Zeit aufgreifen. Krieg erschien damals weit weg, Pazifismus eine Haltung mit Gratismut. Dies hat sich nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 radikal geändert. Die Wirklichkeit hat das Stück eingeholt.“

Philippe Manoury
Copyright: Tomoko Hidaki
Doch wie ließ sich aus der Überfülle an Szenen, Personen, Schauplätzen ein Opernlibretto extrahieren? „Es gibt bei Karl Kraus klare Strukturen“, erläutert Hahn. „Die fünf Akte folgen dem Zeitverlauf des Krieges 1914 bis 1918. Bestimmte Orte und Straßenszenen kommen wieder, bei denen die neuesten Nachrichten ausgerufen und verkauft werden.“ Neben der Chronologie der Ereignisse fokussiert das Team vor allem bestimmte Themen: „Es geht um die Art der Präsentation des Kriegs in den Medien, darum, wie er bis in die Familien eindringt, in denen Kinder Krieg spielen, um Kriegsgewinnler, und wie Menschen geradezu vertieren und zu Bestien werden.“
Der längere erste Teil des etwa dreistündigen Werks hält sich eng an den Text von Kraus. Der zweite Teil stützt sich vor allem auf die Schlussszene „Die letzte Nacht“ und bezieht eine eher philosophische Perspektive. Manoury arbeitete dreieinhalb Jahre an seinem Musiktheaterwerk, das er ein „Thinkspiel“ nennt, denn es soll ein Denkanstoß sein und kombiniert wie das „Singspiel“ Schauspiel und Gesang. Bestimmte Textpassagen blieben bewusst unvertont und dem Sprechtheater vorbehalten.
Manoury arbeitet mit Anklängen an verschiedene Musikstil
Oft werden Szene und Musik so verkoppelt, dass gesprochene Textstellen eine eher faktische und realistisch verstehbare Ebene einnehmen, dagegen Gesang und Orchester eine eher symbolische und fühlbare Dimension haben. So spielen etwa zwei Schauspieler Krieg wie Kinder, während dazu zwei Vokalisten im Falsett singen. Ansonsten gibt es, wie in der traditionellen Oper auch, Terzette, Sextette, große Chöre, Orchesterpassagen, Elektronik, Bühnenbild und Videos. Zudem verwandelt ein Soundprogramm des Pariser IRCAM Sprech- und Singstimmen in Echtzeit zu elektronischen Klängen.
Karl Kraus nutzte überwiegend dokumentarische Zitate. Manoury arbeitet mit Anklängen an verschiedene Musikstile: „Ich möchte zum Ausdruck bringen, dass Krieg ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist und auch Geist, Kunst und Kultur tötet. Deswegen gibt es einige Echos aus der Vergangenheit der europäischen Kultur, einen Hauch von Mahler, Debussy, Wagner oder Mozart, eine Vielfalt an Stilen wie bei James Joyces ‚Ulysses‘.“
Über Lautsprecher werden auch Explosionen oder Bombardements zugespielt. Mit der Rolle des „Nörglers“ gab sich Karl Kraus in seiner Menschheitsdämmerung selbst eine Stimme. In Manourys „Die letzten Tage der Menschheit“ werden einige dieser düsteren Prophezeiungen nun vom neu eingeführten „Angelus Novus“beziehungsweise der Sopranistin Anne Sofie von Otter verkörpert. Am Ende erklären in einem Nachspiel „Die ungeborenen Kinder“, sie wollten nicht in diese Welt voll Krieg und Gewalt geboren werden. Ob das die Lebenden zur Einsicht bringt?
Die Uraufführung von „Die letzten Tage der Menschheit“ an der Oper Köln ist am Freitag, 27. Juni, 18 Uhr, im Saal 1 des Staatenhauses. Weitere Termine: 29.6. (16 Uhr), 4., 6. und 9. Juli, jeweils um 18 Uhr. Einführungen jeweils 30 Minuten vor Beginn der Vorstellung in Saal 3. Tickets gibt es auf der Homepage der Oper.