Photographische Sammlung KölnEin überfälliger Bildband über die sachliche Fotografie

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Menschen fotografieren den Mount Rushmore durch eine Glasscheibe hindurch.

Lee Friedlanders „Mount Rushmore, South Dakota“ ist im Band „Points of View“ zu sehen

Die Photographische Sammlung Köln zeigt Höhepunkte der eigenen Bestände und der Fotografie in ihrem Bildband „Points of View“. 

Große Kunstsammlungen sind trügerischer als Eisberge, sie geben in der Regel nicht einmal die Spitze ihrer Spitze preis. Bei fotografischen Sammlungen ist das Verhältnis zwischen dem sichtbaren und dem unsichtbaren Teil geradezu absurd. Das Museum Ludwig hat für seine mehr als 70.000 Aufnahmen einen schmalen Fotoraum reserviert, die ebenfalls in Köln ansässige Photographische Sammlung der SK Stiftung Kultur muss sogar ganz ohne Schausäle auskommen. Würde ihre Direktorin Gabriele Conrath-Scholl nicht immer wieder eigene Bestände in die Sonderausstellungen „schmuggeln“, gliche ihre weltweit einmalige Sammlung einem Gerücht.

Von den mehr als 30.000 Aufnahmen der Photographischen Sammlung werden jetzt immerhin einige Hundert zwischen zwei Buchdeckeln gezeigt; unter dem Titel „Points of View“ ist im Verlag Schirmer/Mosel der überfällige Sammlungskatalog erschienen. Die Geburtsstunde der Sammlung, eine Gründung der Stiftung Kultur der Sparkasse Köln-Bonn, liegt mittlerweile 31 Jahre zurück und prägt das Institut bis heute. 1992 kaufte die Sparkassenstiftung den Nachlass des Kölner Fotografen August Sander (1876-1964) an, darunter 10.500 Originalnegative, 5500 Originalabzüge, Briefe, Dokumente und einen Teil der technischen Ausrüstung. Aus diesem Schatz leitete sich wie von selbst der Sammlungsschwerpunkt ab: Sachliche Fotografie, die im Wesentlichen einem Sander’schen Glaubenssatz verpflichtet bleibt: „Das Wesen der Photographie ist dokumentarischer Art.“

Am Beginn der Photographischen Sammlung steht der Nachlass von August Sander

Als zweites „Gravitationsfeld“ (Conrath-Scholl) neben Sander kam das Archiv des Künstlerpaars Bernd und Hilla Becher hinzu; 1995 hatte die Kooperation begonnen. Auf den ersten Blick scheinen diese beiden Felder nicht zur selben Welt zu gehören: Sander fotografierte Menschen und Landschaften, die Bechers Fachwerkhäuser und Industrieanlagen. Allerdings verbindet sie ein konzeptioneller Blick auf die Fotografie. Sander und die Bechers arbeiteten jeweils in Serien, Reihen und Typologien.

Es ist kaum verwunderlich, dass Sander und die Bechers in „Points of View“ die Schwergewichte sind – insbesondere Sanders Werk dient als Leitfaden durch die Arbeiten der 70 aufgenommenen Fotografen. Allerdings ist die Dominanz nicht so erdrückend, wie man annehmen könnte. Das erste Bild des Bandes hat Conrath-Scholl für Wilhelm Schürmann reserviert (eine Schwarz-Weiß-Aufnahme des Kölner Hauptbahnhofs, der aber immerhin so menschenleer ist wie die Aufnahmen der Bechers), das zweite stammt aus Candida Höfers Serie „Türken in Deutschland“ und zeigt einen Hamburger Einzelhändler hinter der Theke seines Geschäfts.

Das Buchcover von Points of View

„Points of View“ versammelt Werke von 70 Fotografen

Beide Aufnahmen stehen für ihre Schöpfer, aber auch für die Schwerkräfte der Sammlung. Bei Höfers Händler denkt man an Sanders Serien mit Arbeitern und Angestellten, Schürmann blendet die Funktion des Bahnhofs aus, um sich, ganz im Becher’schen Sinne, auf die Konstruktionsprinzipien des Industriebaus konzentrieren zu können. Allerdings ist vor allem Schürmann kein Vertreter der reinen Lehre. Sein Blick ist dokumentarisch, aber durch keine Schule gegangen. „Points of View“ heißt auch: Die sachliche Fotografie hat so viele Blickwinkel auf die Welt, wie es Fotografen gibt.

Der eigentliche Bildteil des Bandes beginnt dann aber doch mit einem Sander-Klassiker: den „Jungbauern“ (1914) im Sonntagsstaat. Seine demokratisch-nüchterne Porträtfotografie aus der Weimarer Republik wird auf den folgenden Seiten mit den etwas aristokratischer gefassten Arbeiten zweier Sander-Zeitgenossen, Jacob Hilsdorf und Hugo Erfurth, verglichen, dann kommt wieder Sander (mit Gruppenfotos) und dann Porträtserien von Judith Joy Ross (aus den 1980/90er Jahren) und Diane Arbus (aus den 1960ern). Die Auswahl folgt dabei offensichtlich weder einer chronologischen noch alphabetischen Ordnung, sondern motivischen und ästhetischen Analogien.

Die Mischung ist bunter als das Schlagwort der „Sachlichen Fotografie“ ahnen lässt

Die Themenkreise des Buches ergeben sich aus den „Gravitationsfeldern“ der Sammlung: das Bild vom Menschen und Industriearchitektur, dazu inhaltlich verwandtes wie Landschaftsfotografie, Naturstudien, Außen- und Innenräume. Karl Blossfeldts „versteinerte“ Blumen sind ebenso vertreten wie die Bauernbilder Francesco Neris, die Straßenszenen Lee Friedlanders oder die Kuhporträts von Ursula Böhmer. Die Mischung ist bunter als das Schlagwort der „Sachlichen Fotografie“ erahnen lässt, und bei Hans Eijkelboom zeigt sich, dass auch die konzeptionelle Fotografie ein doppelter Boden sein kann. Für seine „Ode an August Sander“ bat Eijkelboom beliebige Passanten, die Menschen in Kategorien einzuteilen und suchte dann mit ihnen auf der Straße nach passenden Beispielen für „Halbstarke“, „Ausflügler“ oder „Bonzen“. Die dabei entstandenen Typologien wirken so zusammengewürfelt, dass sie vor allem zeigen, wie leicht wir unseren eigenen Vorurteilen erliegen.

„Point of View“ schließt eine Lücke, denn die Vielfalt der sachlichen Fotografie lässt sich mit keiner Sammlung besser illustrieren. Wunschlos glücklich macht einen der Band aber trotzdem nicht. Er ist eher praktisch gedacht, ein Handbuch, das mehr zum Nachschlagen als zum Schwelgen anregen soll. Die begleitenden Texte sind so nüchtern, als wollten sie mit den Bildern konkurrieren, und natürlich kann auch die assoziative Reihung nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sachlichkeit in Serie auf die Dauer etwas ermüdend wirken kann.

Insofern kommen die Außenseiter der Sammlung durchaus gelegen. 1993 wurde die Sammlung der Photographischen Gesellschaft angekauft, die mit ihren Ausflügen in die experimentelle und wissenschaftliche Fotografie für willkommene Abwechslung sorgt. Die Grenzen zwischen sachlicher und künstlerischer Fotografie sind ohnehin fließend. Schon August Sander manipulierte mitunter ein Negativ, um eine „verbesserte“ dokumentarische Wirkung zu erzielen. Ein Beispiel beschließt den „Points of View“-Band: Sanders berühmter „Handlanger“ leuchtet auf dem Negativ im rosafarbenen Streiflicht einer surrealen Sachlichkeit.


Die Photographische Sammlung/ SK Stiftung Kultur (Hg.): „Points of View. Konzepte und Sequenzen“, Schirmer/Mosel, 360 Seiten, 68 Euro.

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