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Premiere am Schauspiel KölnDie Hölle, das sind die anderen Eltern

Lesezeit 4 Minuten
Lola Klamroth (v.l.), Sabine Waibel, Jörg Ratjen und Alexander Angeletta halten sich in der Inszenierung von „Der Gott des Gemetzels“ am Schauspiel Köln fest in den Armen. Sie frieren.

Lola Klamroth (v.l.), Sabine Waibel, Jörg Ratjen und Alexander Angeletta in„Der Gott des Gemetzels“

Der junge Regisseur Tristan Linder inszeniert Yasmina Rezas „Der Gott des Gemetzels“ im Depot 1 des Schauspiels Köln - mit einer großartigen Kotzorgie.

Michel hat den Hamster seiner neunjährigen Tochter ausgesetzt. Nun sitzt Knusperinchen wie versteinert auf dem Bürgersteig und rührt sich nicht vom Fleck. „Offenbar sind Hamster weder Haustiere noch Wildtiere, ich weiß nicht, wo die eigentlich leben“, kommentiert Michel. Am nächsten Morgen ist Knusperinchen verschwunden.

Die Erzählung von der herzlosen Hamsterabschiebung ist nur einer von vielen, die eigentliche Handlung illuminierenden Nebensträngen, die Yasmina Reza kunstvoll in ihr böses Kammerspiel „Der Gott des Gemetzels“ eingeflochten hat. Doch in der Inszenierung des modernen Klassikers, die Tristan Linder für das Schauspiel Köln übernommen hat, erfährt Knusperinchen späte Gerechtigkeit. Alttestamentarische Gerechtigkeit.

Schon von der bildungsbürgerlichen Wohnzimmereinrichtung der Houillés sind im Depot 1 nur klägliche Restbestände übrig geblieben (Bühne: Sebastian Bolz), doch in der zweiten Hälfte des Abends, schickt Linder die Ehepaare Houillé und Reille endgültig ins Unbehauste, erst schwitzen sie wie nach dem letzten Saunaaufguss, dann bibbern sie in der Kälte. Schnee fällt, schließlich klatscht ein dicker Regenschwall vom Bühnenhimmel, das zankende Quartett starrt uns, zum Gruppenfoto aufgestellt, wie versteinert von der Bühne aus an. Begossene Pudel, oder vielmehr Hamster, zum zivilisierten Zusammenleben ebenso ungeeignet wie zum rücksichtslosen Durchschlagen in der Wildnis.

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Wer Elternsprechabende besuchen muss, wird Yasmina Reza beipflichten

In den nun bereits fernen Nullerjahren galt die schwarze Komödie um vier arrivierte Pariser, die einen gewaltsamen Pausenhofkonflikt ihrer Kinder – der kleine Ferdinand hat dem kleinen Bruno mit einem Stock zwei Schneidezähne abgebrochen – friedlich und höflich besprechen wollen, als das Stück der Stunde. „Die Hölle, das sind die anderen“, sagt Sartre. „Die Hölle, das sind die anderen Eltern“, antwortet Reza. Wer regelmäßig Elternsprechabende absitzen muss, wird ihr beipflichten.

Allein an deutschsprachigen Bühnen wurde „Der Gott des Gemetzels“ damals rund 60 Mal produziert. Auch am Schauspiel Köln, wo sich Karin Beier auf eine Traumbesetzung (unter anderem mit Maria Schrader und Anja Laïs) stützen konnte und Jubelstürme erntete.

Keine einfache Bürde also für den jungen Regisseur, der erst vor kurzem als Regieassistent in Köln gelernt hatte und sein Studium der Theaterregie in Hamburg noch gar nicht abschließen konnte. Der Einstand auf der großen Bühne, die große Beier im Rücken (und die Polanski-Verfilmung), ein straff durchkomponiertes Stück, das sich scheinbar von selber spielt. Noch dazu musste er mit minimaler Vorlaufzeit arbeiten: Der „Gott“ ist nur eilig umgesetzter Ersatz für Pınar Karabuluts geplante Adaption von Kafkas „Der Prozess“, die aufgrund einer Erkrankung der Regisseurin in die nächste Spielzeit verlegt werden musste.

  • Regie: Tristan Linder
  • Bühne: Sebastian Bolz
  • Kostüme & Mitarbeit Bühne: Lucie Hedderich
  • Musik: Alexander Schweiß
  • Mit: Lola Klamroth, Alexander Angeletta, Sabine Waibel, Jörg Ratjen
  • Termine: 10. Februar, 2., 5., 11., 28., 29. März, Depot 1,
  • 90 Minuten, keine Pause

Doch Tristan Linder gelingt nicht nur eine handwerklich rundum gelungene und zudem höchst vergnügliche Inszenierung, er trotzt dem allzu bekannten Stoff auch eine eigene Note ab. 15 Jahre nach der Uraufführung existieren die klassische Bourgeoisie und ihr Habitus vielleicht wirklich nur noch in Theater und Oper. Dementsprechend hat Kostümbildnerin Lucie Hedderich die Akteure in comicartig-groteske Kleider gesteckt: Alexander Angelettas Pullunder mit Augenkrebs-Muster, Lola Klamroths gepunktete Puffärmelbluse, Sabine Waibels ausladender Hut, Jörg Ratjens viel zu großer Anzug.

„Kein Realismus. Keine überflüssigen Elemente“ fordert Reza im Stücktext, das wird hier übererfüllt: Wir sehen keine Schauspieler, die ihre Figuren psychologisch durchdringen, sondern Figuren, die versuchen, die korrekten Worte und Gesten ihrer Klasse zu treffen.

Hier bricht keine dünne Zivilisationskruste auf, was sowieso ein dummes Klischee ist: „Primitivität und Zivilisation sind nur Abstufungen derselben Sache“, wie es Ursula K. Le Guin einmal formuliert hat. Nein, hier verfolgt man erschreckt und belustigt die zunehmend verzweifelten (oder auch lustlosen) Bemühungen, einen Anschein von Zivilisation zu wecken.

Das alles funktioniert so gut, weil sich eben auch Linder auf eine Traumbesetzung verlassen kann. Wie Klamroth sich versteift, wenn sie wieder zu einer ihrer Moralpredigten ansetzt; wie Ratjen als Anwalt immer dann anfängt, hilflos an seiner Frau herumzufummeln, wenn er seine Mitarbeiter durchs Handy anfährt; oder wie Angeletta zuverlässig seine Macho-Gebärden verstolpert: große Kunst.

Die Krone des Abends gebührt jedoch Sabine Waibel. Wie sie sich in Pose wirft, bevor sie sich als Vermögensberaterin outet, wie sie in einer lustvollen Kotzorgie den Hass auf ihren Mann, die Houillés und den ganzen Rest ausspeit, immer wieder Cola nachkippt, ein menschliches Mentos-Bonbon. Wie sie zuletzt zu hochprozentigem Rum übergeht und dem Triebhaften trunken freie Fahrt gewährt. Das würde man sich heimlich gerne selbst mal erlauben. Aber Yasmina Rezas finale Pointe lautet, dass uns dieses Gemetzel genauso unglücklich machen würde, wie die Anstrengung, sich halbwegs zu benehmen.

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