Neuer Roman Yasmina RezaDarf man in Auschwitz lachen?

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Die Autorin Yasmina Reza 

Paris – Im Konzentrationslager gewesen. Gelacht. Man könnte Kafkas berühmten Kino-Tagebucheintrag auf diese Weise paraphrasieren und hätte damit „Serge“, den neuen Roman von Yasmina Reza, zusammengefasst. In skandalheischender Tweet-Länge.

Die französische Erfolgsautorin schickt darin eine jüdische Familie auf Selbstfindungstrip nach Auschwitz. Und bedient sich einer Komik, die das Lachen nicht auf halbem Weg im Hals verstecken, sondern es rücksichtslos herauskitzeln will. „Darf die das?“, möchte man sich da sofort erkundigen. Aber bei welcher höheren Instanz?

Autorin und Buch

Yasmina Reza, 1959 in Paris geboren, entstammt einer jüdischen Familie mit Wurzeln im Iran und in Ungarn. Ihre Theaterstücke „Kunst“, „Drei Mal Leben“ und „Der Gott des Gemetzels“ waren Welterfolge.

„Serge“, aus dem Französischem von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel, ist im Hanser Verlag erschienen,  208 Seiten, 22 Euro

Man denkt an Jerry Lewis, der mit den noch nicht entwickelten Filmrollen seiner Auschwitz-Komödie „The Day the Clown Cried“ nach Amerika flüchtet, wo er sie bis zum Ende seines Lebens schamhaft unter Verschluss halten wird, überwältigt von der überfälligen Erkenntnis: „Juden, die man vergast, wo soll denn da die Komödie sein?“

Diese Frage allerdings, die darf man Yasmina Reza stellen. Und sie kann sie mit Verve beantworten. Dazu müssen wir uns aber doch erst anschauen, worum es eigentlich geht. Der titelgebende Serge Popper ist der ältere Bruder des Erzählers, ein genialisch-gescheiterter Hallodri, der langsam in die Jahre kommt. Eine jüngere Schwester, Nana, gibt es auch noch. Die drei könnten, wie das bei Geschwistern so ist, unterschiedlicher nicht sein, sie hängen, so Reza, „am seidenen Faden zwischen Sentimentalität und Konvention“.

Neurose und Aufopferung 

Zwischen dem neurotisch-selbstsüchtigen Serge und der von den Eltern verhätschelten und sich nun ostentativ aufopfernden Nana kracht es regelmäßig, vor allem wenn er sich über Nanas Ehemann, einen kommunistischen Spanier, lustig macht. Jean, der mittlere Bruder, ist dagegen stets um Ausgleich bemüht, Reza hat ihm den Beruf eines Experten für Materialleitfähigkeit verpasst. Doch er selbst scheut jegliche Verpflichtung, hat es sich als Junggeselle ohne Eigenschaften im Dazwischen eingerichtet.

Als Marta, die Mutter der drei, stirbt (den Vater hat der Krebs schon ein paar Jahre zuvor hingerafft), droht die Familie Popper, diese „Kuddelmuddelkiste“, auseinanderzudriften. Weshalb Joséphine, Tochter von Serge, auf die Idee mit der gemeinsamen Reise zur Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau verfällt.

Dort müssten einige Vorfahren von Martas weit verzweigter ungarisch-jüdischen Familie ermordet worden sein, dort ist ihr Grab. So genau wissen die Kinder das nicht, denn Marta hat sich stets geweigert, über den Holocaust oder überhaupt ihre jüdischen Wurzeln zu sprechen: „Meine Mutter hatte einen wenig in unsere Zeit passenden Reflex“, erzählt Jean: „Um nichts in der Welt wollte sie Opfer sein.“

Ist das nun Lebenslüge oder Kampfgeist? Fest steht, die ältere Generation ist bei Reza – erschreckend? erstaunlich? erfrischend? – unsentimental: „Und was wollt ihr in Auschwitz machen“, fragt der 99-jährige, ans Bett gefesselte Onkel Maurice, „außer den Polacken Geld in den Rachen schmeißen?“

Das Navi findet Auschwitz nicht

Der Ausflug gerät denn auch schnell aus dem Ruder. Das Mietwagen-Navi findet „Auschwitz“ nicht, weil es Oswiecim heißt. Es ist unpassend sonnig. Besucher des Vernichtungslagers laufen in Shorts und Gummischlappen rum, als nähmen sie eine Umleitung auf dem Weg zur Strandbar. Nur Serge weigert sich, das Jackett seines Anzuges abzulegen. Ob ihm nicht heiß sei, fragt Joséphine. „Doch, doch. Aber in Auschwitz werde ich mich nicht beklagen.“

Tut er dann aber doch. Hält es nicht aus im Gedränge der Elendstouristen, simuliert einen Herzinfarkt, raucht, wo er nicht soll. Als Joséphine und Nana betroffen „unvorstellbar“ ausrufen, keift er zurück: „Klar ist es vorstellbar.“ Auf dem Weg zum zweiten Lager bleibt Serge schmollend im Auto sitzen, während seine Tochter mit dem Entdeckerstolz des Reisenden ausruft: „Das ist die Judenrampe! Das ist der schlimmste Ort der Welt, Papa!“  Verweigert sich, kurz gesagt, der Idee einer Erinnerungskultur, dem Imperativ des „Nicht vergessen!“.

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In verschiedenen Interviews zur Buchveröffentlichung hat Reza ihrerseits Kritik an floskelhafter Gedenkkultur geübt, doch selbstredend ist die Autorin nicht deckungsgleich mit ihrem ziemlich waschlappigen Titelhelden.

„Serge“ amüsiert sich ausschließlich auf Kosten der Lebenden. Deren Ehe-Probleme und Verwandtschaftszwistigkeiten sollten angesichts des Grauens nichtig und klein wirken, überstrahlen dieses jedoch permanent. Es ist ein großes Lachen über die Tyrannei der absoluten Gegenwart und die daraus resultierende Unfähigkeit, aus der Geschichte zu lernen.

Yasmina Rezas Dialoge sind perfekt ausgeführte Florettstiche, jedes Wort ein Treffer; das liegt auch an der ungemein alerten Übersetzung von Frank Heibert und Hinrich Schmitz-Henkel. Da mag man an Rezas Theaterstücke denken, die immer berühmter waren als ihre Romane. Doch zwischen der wörtlichen Rede klaffen Abgründe von Traurigkeit, von vertanem Leben. Der Tod spielt hier immer mit, nicht nur in Auschwitz.  

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