Premiere am Schauspiel KölnLiebling, ich habe das Drama geschrumpft

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Szene aus "Vor Sonnenaufgang", Premiere 2.12. 2022 im Schauspiel Köln

Szene aus „Vor Sonnenaufgang“

Hausregisseur Moritz Sostmann verabschiedet sich mit Ewald Palmetshofers Gerhart-Hauptmann-Bearbeitung „Vor Sonnenaufgang“ vom Schauspiel Köln. Leider erschlägt das Bühnenbild die Tragödie.

Vorschulkindern schenkt man als Zubehör zum hölzernen Einkaufsladen gerne einen Plastikkorb mit leeren Pappschachteln. Bei denen handelt es sich um Miniaturformate bekannter Marken, im korrekten Format und mit den bunten Aufdrucken, die das Kind von den Fahrten im Rennautocockpit des Einkaufswagens durch die Supermarktregale kennt.

In Moritz Sostmanns Inszenierung von Ewald Palmetshofers „Vor Sonnenaufgang“ – einer Nachdichtung des frühen Gerhart-Hauptmann-Stückes – hat diese spielerische Warenwelt riesenhafte Dimensionen angenommen. Der Sprung vom Esstisch ist nicht ungefährlich, an ihm Platz zu nehmen erfordert eine kleine Kletterpartie.

Ihre Einkäufe muss Familie Krause mühsam in einer mannsgroßen Tüte nach sich ziehen, die Cornflakes reichen bis zum Oberschenkel, Sekt strömt aus Magnumflaschen in Vasenähnliche Gläser wie der Wasserschwall aus der Schwimmbaddüse. Nur die Toblerone hat man in der Größe schon mal im Wartebereich von Flughäfen gesehen.

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Moritz Sostmann verzichtet diesmal auf die Puppen, für die er bekannt ist 

Sostmann, der sich mit „Vor Sonnenaufgang“ nach neun Jahren als Hausregisseur vom Schauspiel Köln verabschiedet, schätzt man vor allem für seine gewitzten, zärtlichen, oft ungemein berührenden Interaktionen zwischen Schauspielern und Puppen.

Die fehlen hier, stattdessen schrumpft Sostmann im Depot 2 sein menschliches Ensemble ins Puppenhafte. Das ist zunächst einmal ein frappierender Anblick, zumal kaum ein Gag ausgelassen wird: Eine zuckerstangengroße Zigarette wird mit einem entsprechend fetten Zippo angezündet, Zinnteller fliegen wie das Schild von Captain America.

Dann ist es aber auch eine schlagende Metapher. Hauptmanns durch Kohle zu Wohlstand gekommene Bauern hat Palmetshofer zur mittelständischen Unternehmerfamilie umgedichtet, die Grundkonstellation bleibt dieselbe: Thomas Hoffmann (Nikolaus Benda) hat die linken Ideale seiner Studentenzeit weit hinter sich gelassen, ist aufs Land gezogen und hat in den Familienbetrieb eingeheiratet. Geld ist vorhanden, das Geschäft läuft, nur glücklich ist keiner, nicht der Patriarch (Daniel Nerlich), der dem Alkohol und mehr noch der Erinnerung an einfacherer Zeiten verfallen ist, nicht seine zweite Frau (Anja Laïs), die Laden und Fassade zusammenhält.

Figuren als Spielzeug der übermächtigen Warenwelt

Und auch nicht die beiden Töchter aus erster Ehe: Helene (Rebecca Lindauer), die jüngere, ist beruflich und privat gescheitert und wieder zurück ins Elternhaus gezogen, Martha (Katharina Schmalenberg), Hoffmanns depressive Ehefrau, setzt ihre ganzen Hoffnungen auf ein spätes Kind, das todgeboren werden wird.

Dass nur wer kommen müsste, um sie aus ihren narzisstischen Träumereien wachzurütteln, wie es im Programmheft heißt, scheint doch eher unwahrscheinlich. Dazu sind die Verhältnisse zu starr, es verhält sich eben genauso, wie man es auf der Bühne sieht: Die Krauses sind das Spielzeug der übermächtigen Warenwelt, nicht andersherum.

Und es kommt ja einer: Alfred Loth, ein ehemaliger Kommilitone von Thomas. Einst teilte man Utopien, heute hängt nur noch Alfred ihnen nach und schreibt in einer linken Wochenzeitung gegen den Ist-Zustand der Welt an. Helene wirft sich ihm sofort an den Hals, aber eigentlich wetzt sich die ganze Familie am Eindringling aus der Stadt.

An dieser Stelle fällt die Inszenierung leider in sich zusammen: Die zeitgeistigen Themen, die Palmetshofer der Hauptmann’schen Vorlage aufbürdet, wirken in Köln noch aufgepappter: Wenn der woke Alfred dem zur politischen Demagogie neigenden Thomas das Auseinanderdriften der Gesellschaft vorhält, hört man den Autor predigen, obwohl Müller das herrlich weinerlich spielt. Helenas Unglück bleibt so diffus wie Marthes Depressionen. Wo, verdammt nochmal, bleibt die Zärtlichkeit? Das Geschehen lässt seltsam unberührt.

Einzig Anja Laïs verleiht der statusbewussten Stiefmutter ungeahnte Tiefe und nur Paul Basonga spielt passend zum grotesken Bühnenbild: Er krabbelt im ersten Bild als Marthas ungeborenes, aber frisch gewindeltes Riesenbaby auf die Bühne, versucht vergeblich, sich am Tisch hochzuziehen und trippelt dann, erstaunt darüber, dass es funktioniert, auf wackeligen Beinen fort.

Man wird durchaus gut unterhalten in diesen zwei Stunden, erkennt eventuell sogar die eigenen von den Umständen erdrückten Lebensentwürfe in denen der Krauses wieder, dies allerdings ohne große Erschütterung. Und eigentlich ist nach den ersten drei Minuten auch schon alles gesagt. Das ist der Fluch der einleuchtenden Idee.

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