Rheingau-MusikfestivalHier musizieren die Starsolisten direkt am Dom

Lesezeit 6 Minuten
Direkt neben dem doppeltürmigen Dom ist eine Bühne aufgebaut, davor lauschen viele Menschen auf dem Domplatz den Musikern.

Das Rheingau-Musikfestival in Geisenheim mit „Soul am Dom“.

Beim Rheingau-Musikfestival gibt es ein vielfältiges Musikprogramm. Die Konzerte finden dabei direkt auf dem Domplatz von Geisenheim statt.

Der Domplatz von Geisenheim ist Kleinstadtidylle pur: Um die doppeltürmige neugotische Pfarrkirche gruppiert sich ein von schönstem altdeutschem Fachwerk beherrschtes Gebäudeensemble. Die Folge dieser Kompakt- und Geschlossenheit: Es gibt nur wenige Zugänge zum Platz, und die können gut kontrolliert werden. An diesem hochsommerlichen Juliabend wird kontrolliert: Auf den Platz darf nur, wer ein Ticket für das angekündigte Konzert vor dem Dom hat.

So oder so ist die Location schon eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn gut gefüllt: Auf rustikalen Sitzbänken wie im Stehen lassen es sich die Gäste bei Würsten, Bier und Wein volksfestmäßig gut gehen, und als die Aschaffenburger Soul-Band Waterproof auf die Bühne kommt, steigt die Stimmung noch einmal spürbar. Der elektrisierende Motown-Soul-Sound setzt viele Zuhörer in rhythmische Bewegung – wobei freilich, wer sich direkt vor die Bühne stellt, schwer was auf die Ohren bekommt.

„Soul am Dom“ im Geisenheim

Auf jeden Fall gehören Formate dieser Art – „Soul am Dom“ seit 2017 – mittlerweile zum Rheingau-Festival. Bach, Mozart, Beethoven, Tschaikowsky – ja klar, die Klassik gibt hier immer noch den Ton an, aber eben nicht ausschließlich. „Wir machen ein Festival für unsere Besucher, nicht für uns selbst und unsere Vorlieben“, beschreibt Intendant Michael Herrmann das Konzept des Unternehmens, das er 1987 an den Start brachte und auf eine allgemein anerkannte Erfolgsschiene setzte.

Alles zum Thema Konzerte in Köln

Tatsächlich ist den Zahlen zufolge das laufende Veranstaltungsjahr – mit insgesamt 164 Konzerten zwischen dem 24. Juni und dem 2. September – das bislang erfolgreichste seiner Existenz: Von den insgesamt 140 000 Tickets waren 110 000 bereits kurz nach dem ersten Verkaufsbeginn vergeben.

Veranstalter des Rheingau-Musikfestivals denken unternehmerisch

Ein „Festival für die Leute“. Mit den Popkonzerten à la Domplatz will man gezielt auch das heimische Publikum ansprechen – die Bevölkerung des Rheingaus am rechten Rheinufer zwischen Wiesbaden und Lorch soll das allsommerliche Mammutereignis nicht als abgehobene Veranstaltung für auswärtige Großkopfete empfinden, sondern sich selbst mit ihm identifizieren können.

Das ist allerdings eh schon der Fall – die bespielten Städte und Gemeinden stehen genauso hinter dem Festival wie die Landesregierung in Wiesbaden. Es tun aber auch diejenigen, die mit dem Angebot vielleicht nicht so viel am Hut haben. „Es ist“, so Mit-Geschäftsführer Marsilius Graf Ingelheim , „die größte Werbeeinheit für die Region“ mit einer erheblichen Umwegrentabilität etwa für Fremdenverkehr und Gastronomie: „1 Euro beim Festival sind 10 bis 20 Euro für die Region.“ Da spricht weniger der Kulturfreund als vielmehr der Manager, der Betriebswirt. Tatsächlich verstehen sich Herrmann und Ingelheim aber als Kunstfreunde und als Kaufleute in Personalunion: „Auch Kultur ist am Ende des Tages unternehmerisch zu denken, sonst gibt es sie bald nicht mehr.“

Aufführung am Zisterzienserkloster Eberbach

Szenenwechsel – vom Geisenheimer Domplatz zur romanischen Basilia des ehemaligen (bereits 1805 säkularisierten) Zisterzienserklosters Eberbach in den waldreichen Ausläufern des Taunus oberhalb von Eltville. Dort gibt es am Folgetag eine Aufführung von der Art, für die das Rheingau-Festival allgemein noch bekannter sein dürfte als der Soul. Hochkarätige Solisten und das Orchestra Sinfonica di Milano mit Chor   singen und spielen, platziert im Ostchor der Basilika, unter Claus Peter Flor das Verdi-Requiem.

Die karge, lapidare, in ihrer spirituellen Sprache aber äußerst eindringliche Architektur, der hereinbrechende Abend, atmosphärisch bereits erlebbar beim Eintritt in die Kirche vom Kreuzgang her, die unvergleichliche Klang-Aura der Totenmesse – ja, dieses Erlebnis mag ein Musikfreund so schnell nicht vergessen. Dass die Akustik auch ihre Tücken hat, die Wucht der Verdi’schen Ganzschlüsse zwischen Chor und Orchester gelegentlich leicht zerbröselt – geschenkt, solche Einbußen können den tiefen Eindruck nicht beeinträchtigen, den der gesamtkunstwerkliche Zweiklang von Ton- und Baukunst hinterlässt.

Anne-Sophie und Mstislaw Rostropowitsch waren schon dabei

Tatsächlich war es die in dieser Form einmalige Synthese aus Landschaft, Musik, Architektur und, nicht zu vergessen, Wein, die das Rheingau-Festival seine nunmehr 35-jährige Erfolgsgeschichte schreiben ließ. Und Herrmann – der heute 79-jährige sang als junger Mann in Eberbacher Chorkonzerten mit – hatte diesbezüglich den richtigen Riecher: „Hier war ja“, erzählt er, „vorher nichts, und als ich anfing, sagten mir viele Leute: Daraus wird auch nichts, man kann in der Provinz keine Konzerte machen, da kommt keiner. Von wegen!“

Do. 6.7. | 20:00 Uhr
Giuseppe Verdi: Messa da Requiem
Carmela Remigio, Sopran · Anastasia Boldyreva, Mezzosopran
Davide Giusti, Tenor · Riccardo Zanellato, Bass
Orchestra e Coro Sinfonica Di Milano
Claus Peter Flor, Leitung
Kloster Eberbach, Basilika, Eltville am Rhein

Aufführung einer Verd-Messe im Kloster Eberbach in Eltville am Rhein

Bis heute nimmt das Festival kaum staatliche Unterstützung in Anspruch, es finanziert sich aus Eintrittsgeldern und den Zuwendungen potenter Sponsoren. In der Anfangsphase ließ sich einer der berühmten Solisten, die man immerhin ziemlich schnell verpflichten konnte (darunter der Cellist Mstislaw Rostropowitsch und die Geigerin Anne-Sophie Mutter) sein Honorar in bar auszahlen, weil er der Bonität und Seriosität des Unternehmens misstraute. Diese Zeiten sind lange vorbei.

Die Besucher kommen aus einem „Drei-Stunden-Radius rund um Frankfurt“ – darunter viele aus der Kölner Region, für die das Rheingau-Festival nach dem Beethoven-Fest das nächstgelegene Großereignis dieser Art ist. Die Auswärtigen bleiben mehrere Tage oder fahren am Konzertabend wieder nach Hause.

Stars wie Jan Lisiecki und Daniil Trifonov locken Klassikliebhaber

Viele locken nicht nur die großen Solisten- und Orchester- und Chornamen – Künstler wie Jan Lisiecki, Daniil Trifonov, Augustin Hadelich und Daniel Müller-Schott sind mit dem Festival recht eigentlich „groß“ geworden.   Sie lockt auch die pittoreske Diversität der Aufführungsorte – dies ein Pfund, mit dem das Festival wahrlich wuchert: Marktplätze und Kirchen, Schlösser und Weingüter gehören dazu, und mit der Alten Oper Frankfurt und dem Wiesbadener Kurhaus ist auch das urbane Konzertsaal-Ambiente dabei. Und es gab auch schon musikalische Riverboatshuffles auf dem Rhein.

Das Angebot ist selbst im engeren Klassik-Bereich auf Niederschwelligkeit ausgerichtet. Das betrifft nicht nur die Preise, die zwischen 18 und 110 Euro pro Ticket liegen und damit im Schnitt deutlich etwa unter Salzburg-Niveau bleiben. Es betrifft auch die Programmation: Wer hier experimentelle Signaturen sucht, an der vor allem hartgesottene Avantgarde-Freaks Spaß hätten, wird kaum auf seine Kosten kommen. „Im Publikum“, so Herrmann, „befinden sich Klassikliebhaber, aber auch Klassikinteressierte, die das besondere Event suchen.“ Als Beispiel erwähnt er die traditionelle Open-Air-Mozartnacht (mit dem Kölner Kammerorchester unter Raphael Christ) und die Italienische Nacht, beide im Kreuzgang des Klosters   bzw. auch in angrenzenden Räumen für die Kammermusik. Der Intendant: „Da gehen oft nicht die typischen, in der Sache hochinformierten Konzertgänger hin.“ Auf zehn Prozent des Kartenkontingents schließlich haben die Sponsoren Zugriff. Die Agenda können sie, wird versichert, nicht beeinflussen.

Trotz Corona wieder stark

Dieser Rahmensituation muss der Manager Herrmann Rechnung tragen: „Wenn Journalisten schreiben: Die machen da nur Mainstream, dann antworte ich: Ich mache das Programm nicht fürs Feuilleton, und festangestellte Redakteure haben sich noch nie Gedanken über Finanzierung machen müssen.“ Dass dann schon mal – wie jüngst bei einer Aufführung von Mahlers dritter Sinfonie in der Kammerorchesterfassung – zwischen den Sätzen geklatscht wird, ist angesichts dieser Voraussetzungen wohl hinzunehmen.

Die Corona-Jahre haben auch dem Rheingau-Festival zugesetzt – ohne die staatlichen Unterstützungsprogramme und den Support seitens der Sponsoren hätte man zumachen müssen, gibt Herrmann offen zu. Jetzt, nach Corona, ist man stärker denn je. Ingelheim ist sich sicher, dass da nicht nur ein Nachholbedarf bedient wird: „Mir scheint sich durch Corona das Freizeitverhalten geändert zu haben: Wenn man jetzt Freizeit opfert, möchte man etwas Einmaliges erleben, nicht die üblichen Abo-Reihen in den festen Häusern. Die haben ja auch immer noch Auslastungsprobleme.“ Wenn das stimmt, wird sich das Rheingau-Festival auch um seine Zukunft keine Sorgen machen müssen.

KStA abonnieren