Schauspiel KölnMina Salehpour dramatisiert Ágota Kristófs Romantrilogie aufs Eindringlichste

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„Das große Heft/Der Beweis/Die dritte Lüge“ am Schauspiel Köln: Bruno Cathomas (l.) und Seán McDonagh stehen in weißen Hemden auf der Bühne und schreien einander an

„Das große Heft/Der Beweis/Die dritte Lüge“ am Schauspiel Köln: Bruno Cathomas (l.) und Seán McDonagh reden mit einer Stimme

Regisseurin Mina Salehpour bringt mit „Das große Heft/Der Beweis/Die dritte Lüge“ ausgezeichnetes Schauspiel auf die Bühne.

Später, als die Zwillinge schon lange getrennt sind, spricht Seán McDonagh im Depot 2 vier Sätze, die wie das Glaubensbekenntnis der Autorin Ágota Kristóf klingen: „Die Hefte verbrennen. Die Städte verbrennen. Die Menschen verbrennen. Aus der Asche müssen wir Stifte machen, um ihre Geschichten niederzuschreiben.“ In Heften, möchte man zirkelschließend ergänzen, die bald wieder verbrennen werden.

Bevor diese Sätze fallen, ist schon viel Geschichte gemacht worden. Und vor dem ersten Satz fällt zuerst eine Mauer. Sieben Ziegel brechen mit Karacho auseinander, verteilen sich im Bühnenraum (den Andrea Wagner eingerichtet hat). Dahinter stehen die Zwillinge. Weiße Hemden, schwarze Hosen, die Haare zurückgekämmt, die Köpfe wie in Lehm getaucht. Claus und Lucas, eineiig und doch ganz verschieden, an Größe, an Gewicht, vom ganzen Typ her. Aber Seán McDonagh und Bruno Cathomas sprechen wie ein Körper. Nicht deklamierend wie ein Chor, sondern wie zwei Aspekte eines Menschen.

Der Krieg ist ein Abenteuerspielplatz

Die Mutter hat sie, berichten sie unisono, aus der großen in die kleine Stadt gebracht, an deren Rand die Großmutter ein Häuschen hat. Die Jungen haben zwei Koffer, aber nur ein großes Aufsatzheft. Das müssen sie sich teilen. Es ist Krieg. Die große Stadt wird bombardiert. Die Großmutter gewährt unwillig Unterschlupf. Sie nennt die Enkel Hundesöhne. Die Menschen in der kleinen Stadt nennen die Großmutter Hexe.

Hinter ihrem Haus ist der Garten, hinter dem Garten ein kleiner Fluss und hinter dem Fluss beginnt der Wald, in dem die Grenze zum anderen Land verläuft. Die Hundesöhne passen sich wie schlaue Tiere ihrem neuen Leben an. Härten sich ab gegen die Schläge der Großmutter, gegen tote Soldaten, die sie im Wald finden, gegen die Wachtposten, die sie grüßen, statt auf sie zu schießen. Der Krieg ist ein Abenteuerspielplatz. Die Zwillinge helfen einem Mädchen mit schwarzen Zähnen, das alle Hasenscharte rufen. Sie erpressen den Pfarrer, der sich von Hasenscharte deren Geschlecht zeigen lässt. Später töten sie auch. Weil das zum Spiel dazu gehört.

Schauspiel im Depot: Ein dunkles böses Märchen

Dieser erste Teil des Abends ist wie ein dunkles, böses Märchen. Ágota Kristóf hat es so geschrieben, in ihrem ersten Roman „Das große Heft“. Und Mina Salehpour hat es genauso inszeniert. Glauben wir die Geschichte von Claus und Lucas, weil sie mit zwei Stimmen gesprochen wird? Weil die Zwillinge grausamste Handlungen in einfachsten Sätzen schildern? Oder weil die radikal reduzierte Sprache selbst Spur einer gewaltsamen Vertreibung ist? Kristóf floh nach dem Ungarnaufstand mit Mann und Kind in die Schweiz. Das Französisch ihrer Romane hat sie sich mit viel Mühe als Erwachsene beigebracht.

In der Fassung von Mina Salehpour bekommt der Text noch dazu einen Anstrich von absurdem Theater. Das ungleich-unzertrennliche Duo McDonagh und Cathomas könnte aus einem Beckett-Stück stammen. Wirkt unbehaust wie Wladimir und Estragon – und von ebenso grimmiger Komik.

Zwillinge werden getrennt

Als schließlich ein Mann auftaucht, der sagt, dass er ihr Vater ist und aus dem Land fliehen muss, helfen sie ihm über die Grenze. Oder entdecken eine Möglichkeit, selbst zu entkommen. Der Vater tritt ins Minenfeld voran, Claus geht über seine Leiche in das andere Land, Lucas, Seán McDonagh, zurück, ins Haus der Großmutter. Auch die Zwillinge hatten ihre Aussetzer. Mal fehlten einzelne Wörter, mal verwendeten sie unterschiedliche Synonyme. Doch jetzt, wo er allein ist, hat es Lucas die Sprache verschlagen. Bis er im Wald auf eine Frau stößt, die ihren missgestalteten Jungen ertränken will. Lucas bietet ihnen an, zu ihm, ins Haus der Großmutter, zu ziehen. Eine Chance für den Zerrissenen, wieder ganz zu werden. Aber der Junge hasst ihn. Er will lieber tot sein, als von Lucas geliebt zu werden.

McDonagh spricht Lucas, er spricht Mathias, den Jungen. Es ist von vielen guten sein bislang bester Moment am Schauspiel Köln. Es ist auch der Moment, in der er die eingangs zitierten Sätze spricht. Man fröstelt und zerschmilzt zugleich vor Mitleid.

Die einzige Wahrheit bleibt der Krieg

Schließlich kehrt Claus nach Jahren in die alte Heimatstadt zurück. Cathomas und McDonagh hatten zuvor die gebrochenen Ziegel senkrecht aufgestellt. Zuerst sieht man einen Friedhof, ein Stelenfeld, dann erkennt man eine ausgebombte Stadt. Könnte Mariupol sein. Könnte Köln sein. Es ist ein Klischee, von der „schmerzhaften Aktualität“ eines Textes zu sprechen. Ágota Kristófs Romantrilogie wird immer schmerzen.

Claus, Bruno Cathomas, erzählt eine andere Geschichte vom Krieg. Ohne Mutter, ohne Großmutter, vielleicht auch ohne Bruder? Als er McDonagh anspricht und in ihm den verlorenen Bruder zu erkennen glaubt, verleugnet er ihn: „Sehen Sie mich an und dann sich selbst. Gibt es die geringste körperliche Ähnlichkeit zwischen uns?“ Hat er Recht? Hat sich Cathomas eine fremde Geschichte angeeignet? Oder will McDonagh nur sein Glück nicht gefährden, es gibt eine Frau, Kinder, Enkelkinder. Zwei Jungen, Lucas und Claus. Aber die waren vielleicht von Anfang an nur ein Anagramm ein und derselben Person. Kristóf hat den dritten Teil ihrer Trilogie „Die dritte Lüge“ genannt. Die einzige Wahrheit bleibt der Krieg und das Leid und das Schreiben über Krieg und Leid. Ein berückender, bitterer, ausgezeichnet gespielter Abend.

Das große Heft / Der Beweis / Die dritte Lüge von Ágota Kristóf

Das große Heft / Der Beweis / Die dritte Lüge von Ágota Kristóf

Termine: 2., 11., 20. April, 4., 14., 31. Mai, Depot 2, 120 Minuten, keine Pause

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