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Sommerblut-FestivalWasserballett im Altenheim, VR-Spiele aus reinem Klang

Lesezeit 4 Minuten
Eine junge Frau trägt im Dunkeln eine VR-Brille und spricht in ein Mikrofon.

Szene aus „Sona – Seeing Sound“

Das Kölner Sommerblut-Festival hat in diesem Jahr die Grenzen der Inklusion mit ganz neuen Formaten erweitert. Ein Rückblick.

Dieses Schwimmbad bekommt man nicht alle Tage zu sehen. In der Seniorenanlage „Residenz am Dom“ sind Stühle um den hauseigenen Wellness-Bereich gebaut. Gut, dass der Badeanzug eingepackt ist. Schön ist es: Lichter glimmen, eine alte Dame sitzt lässig an den Drums, Mikro und Mischpult sind an der Seite aufgebaut. Das Kollektiv „BKM Performance“ in der Regie von Ruby Behrmann hat ihre Theaterproduktion „She doesn’t look her age“ an einen Ort verlegt, der in der Öffentlichkeit sonst so gut wie nicht vorkommt: ins Altersheim.

Dessen Pool ist ein spannendes Bild: denn der Mythos vom Jungbrunnen symbolisiert seit Jahrhunderten ewige Jugend, Unsterblichkeit, Lebenskreisläufe. Wir schwimmen im Fruchtwasser und werden, wenn wir wollen, als Asche im Meer verstreut. Die drei Damen aus der Seniorenresidenz sind allerdings noch lange nicht so weit. Erika Dahlen, 83 Jahre alt, lässt in cooler Neon-Kleidung im Wasser ihre beeindruckenden Muskeln spielen.

Eine junge Performerin und eine über 80-Jährige tanzen schwerelos im Wasser

Die junge Performerin Benze C. Werner und die deutlich über 80-jährige Monika Krämer tanzen gemeinsam im Wasser, zärtlich führen sie sich gegenseitig: schwerelos, alterslos, zärtlich vereint in Zeitschichten der Ewigkeit. Kaum noch zu unterscheiden sind die beiden, obwohl sie Jahrzehnte trennen. Berührend ist auch, wenn Marie-Ange Meyer-Plate, graziös im Badeanzug, erzählt, wie sie sich erst im Alter vom Männerblick auf sich selbst befreit hat. Überhaupt strahlen die vier Performerinnen aus der Seniorenresidenz Fröhlichkeit, Freiheit und Selbstbestimmtheit aus. Live schmettert dazu die Sängerin und Schauspielerin Mona Sachße Schillers „Lied vom Bache“ als Arie durch den Raum.  

Zart und zauberhaft gelingt dem BKM-Kollektiv, sonst nahezu unsichtbare alte Menschen sichtbar zu machen, ihrem Leben, Sehnen und Fühlen eine Stimme zu geben. Am Ende schaukeln kleine, bunte Fontänen auf dem Wasser und alle Zuschauer sind ebenfalls eingeladen, mitzuplantschen in einer Art Ursuppe gemeinschaftlicher Lebendigkeit.

Es ist beeindruckend, wie das Kölner Sommerblut-Festival in diesem Jahr die Grenzen der Inklusion mit ganz neuen Formaten erweitert hat. Aus vermeintlichen „Behinderungen“ werden hier Kunstformen destilliert. Das ist auch in „Sona – Seeing Sound“ in der Tanzfaktur der Fall, was nichts weniger ist als die inklusive Neuerfindung eines Computergames. Denn wer sagt, dass Räume nur mit Augen erfasst werden können? Man könnte sie doch auch fühlen und hören.

Blind taucht man in ein neues Universum ein

In Workshops mit sehbehinderten Menschen hat das Team von Sona ein VR-Game nur aus Klang entwickelt, dass es so noch nie gegeben hat. Die Story zum Mitmachen beginnt in einem finsteren Kaufhaus. Der Besucher setzt eine dunkle Brille auf und zieht Sensoren an die Füße. Komplett blind taucht man nun ein ins dreidimensionale Universum.

Seltsames Gefühl: die eigenen Schritte erzeugen ein watschendes Knirschen bei jedem Schritt. Klackernde Warnsignale ertönen immer lauter, wenn eine virtuelle Wand sich nähert. Von Ferne erklingt der Aufzug, langsam tappt man in die richtige Richtung, tritt mit einem satten Schlurfen ein und kann zwischen zugerufenen Optionen entscheiden: Zur Dachterrasse? In die Musikhandlung? Oder in den Supermarkt, wo Kinder und Tiere darauf warten, befreit zu werden? Spannend ist, wie man hier einerseits die Welt von Blinden selbst erleben kann – und das Theatergame zugleich zum Instrument der eigenen Wahrnehmungserweiterung wird.

Auch bei „Medea.Stille“ (eine Abwandlung von Christa Wolfs Roman „Medea.Stimmen“) hören die hörenden Zuschauer zunächst minutenlang – nichts. Sondern sehen: eine eigens entwickelte, poetische Choreografie aus Gebärdensprache. Medea und Jason verlieben sich zärtlich, wellenhaft, blumenartig, fröhlich sind ihre parallelen Gesten – bis sich Jason abwendet, von der Welt der Stimmen gerufen wird aus seinem stummen Liebesuniversum. Das antike Drama von Euripides nimmt seinen Lauf, die fremde – und in diesem Fall auch hörbehinderte – Medea wird verlassen und verstoßen und rächt sich fürchterlich. Spannend ist, wie Regisseurin Stefanie Miller auch hier die Situation umdreht, die Stille zu einem Gestaltungselement macht, das etwas Neues über das alte Drama erzählt.

Noch beeindruckender aber ist, wie viele hörbehinderte Menschen im Publikum sitzen und anschließend sogar rege am Publikumsgespräch teilnehmen. Lange vorbei scheinen die Zeiten, als Behinderung als Makel und Ausschluss gesehen wurden. Definitiv ist das Kölner Sommerblut-Festival in diesem Jahr künstlerisch in neue Dimensionen von Teilhabe vorgestoßen.