„Stranger Things“Finale von Staffel vier - warum Netflix' Zukunft von ihr abhängt

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Stranger-Things-Freunde.

Hawkins – „A Nightmare on Elm Street“, der Horrorklassiker bei dessen Plot die Duffer-Brüder sich für die vierte Staffel ihrer Serie „Stranger Things“ großzügig bedient haben, hat eine Laufzeit von 91 Minuten. Die ersten sieben „Stranger Things“-Folgen von Staffel vier, die Netflix Ende Mai veröffentlicht hat,  umfassten fast neun Stunden. Die letzten beiden Folgen, die ab 1. Juli zu sehen sind, haben eine Laufzeit von fast vier Stunden. 

Einfacher lässt sich der Unterschied zwischen Kino und Streaming nicht fassen: Ersteres ist das Versprechen eines Ereignis, lockt dich gegen ein Entgelt zusammen mit anderen Neugierigen in einen dunklen Raum. Die ersten Kinovorstellungen fanden auf Jahrmärkten statt. Letzteres dagegen will dich möglichst lange auf dem heimischen Sofa festhalten. Das Versprechen der Streamingdienste sind ihre nie versiegenden Entertainmentquellen.

Auf die vierte „Stranger Things“-Staffel musste man trotzdem drei Jahre warten. 13 Stunden Inhalt in Kinoqualität – die beiden abschließenden, extralangen Folgen gibt Netflix jetzt im Juli frei – lassen sich nicht so schnell produzieren wie Krankenhaus- oder Krimiserien aus den Zeiten des laufenden Programms. Zudem kam die Pandemie dazwischen.

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Nach neun Stunden „Stranger Things“ ist man bedient

Die Duffer-Brüder haben den einzig gangbaren Weg eingeschlagen. Sie treiben ihr ständig erweitertes Ensemble noch weiter und in immer neuen Kombinationen auseinander, um es dann für einen umso spektakuläreren Endkampf wieder zu vereinen. Letzteres ist reine Spekulation, die letzten zwei Folgen wurden der Presse noch nicht zur Verfügung gestellt.

Nach den ersten neun Stunden ist man schon bedient. Die süßen Kinder der ersten Staffel sind gewaltig hochgeschossen, überraschen mit Brummbass-Stimmen und haben sich zwangsläufig auseinander entwickelt. Lucas (Caleb McLaughlin) hat sich den Jocks des Basketballteams der Hawkins High angeschlossen, Mike (Finn Wolfhard) und Dustin (Gaten Matarazzo) veredeln ihr unfreiwilliges Nerdtum zum generellen Nichteinverstandensein. Will (Noah Schnapp), der Vierte im Bunde,  wohnt nun weit entfernt in Kalifornien,  beobachtet mit Sorge, wie seine neue Stiefschwester Eleven (Millie Bobby Brown) – für Nichtgucker: Das ist das nasenblutende Mädchen mit den telekinetischen Fähigkeiten – von ihren Mitschülern gemobbt wird, fühlt sich ansonsten weiterhin ungeliebt und unverstanden: Irgendwie ist er im Upside Down stecken geblieben, der genial simplen Metapher für alle unterdrückten Gefühle der Kleinstadtbewohner aus der ersten Staffel.  

Wie Netflix zum Global Player aufstieg

Als 2016 mit „Das Verschwinden des Will Byers“ die erste Episode auf Netflix veröffentlicht wurde, war der Streamingdienst gerade zum Global Player aufgestiegen, expandierte in 130 Länder und produzierte 126 eigene Serien und Filme in einem Jahr, mehr als jeder andere Fernsehsender oder jedes andere Filmstudio. Daran, dass die Zahl der Abonnenten seitdem von knapp 90 auf gut 220 Millionen gestiegen ist, hat „Stranger Things“ keinen geringen Anteil.

Die Serie funktioniert, mehr als jedes andere Netflix-Originalprogramm, beinahe als pars pro toto für den Konzern: Sie spricht Teens und junge Erwachsene an – also Menschen, die noch ausreichend Zeit haben, um sie dem endlosen Content-Ausstoß des Streamingsdienstes widmen können – und ebenso deren Eltern, deren Sehnsucht nach den eigenen Teenagerjahren die Serie schamlos befriedigt. Das war nicht mehr das Qualitätsfernsehen, dem sich einst der Bezahlsender HBO verschrieben hatte, sondern eine reine Bedürfnisbefriedigungsmaschine, welcher der Sprung zum pop-kulturellem Phänomen gelungen war.

Sehnsucht nach einer Zeit ohne Netflix

Was „Stranger Things“ antreibt, sind nostalgische Gefühle gegenüber einer Zeit, in der noch nicht jedes Programm clickbereit zur Verfügung stand, in der noch kein Algorithmus die eigenen Sehgewohnheiten voraussagte. In der die Kindheit im magischen Glühen der Bildschirmröhre erstrahlte, man sich inmitten einer Gruppe von Fremden im dunklen Kinosaal ängstigte und amüsierte, nicht ahnend, was als nächstes kommen würde. In der man die Tatsache, dass man eine verschlierte VHS-Kopie von Sam Raimis in Deutschland indizierten Horrorfilm „Tanz der Teufel“ gesehen hatte, wie ein Ehrenabzeichen im Pausenhof vor sich hertrug.

Mit anderen Worten: Netflix’ größter Erfolg erzählt davon, wie aufregend die Welt bewegter Bilder vor dem Siegeszug von Netflix war.

Der ist zuletzt arg ins Stottern geraten: Am Ende des ersten Quartals 2022 musste der Konzern verkünden, dass er zum ersten Mal seit langem Abonnenten verliert, seine Aktien sanken daraufhin um 35 Prozent, 175 Mitarbeiter mussten gehen. Als Hauptursache wurde das Teilen der Accounts unter Freunden, Familienmitgliedern, WG-Mitbewohnern genannt. Das größere Problem ist aber wohl die wachsende Konkurrenz durch andere Streamingdienste wie Disney, Amazon Prime Video, oder zuletzt Paramount. Die zudem allesamt bekannte und begehrte Inhalte von Netflix abziehen.

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Bleiben die Eigenproduktionen. Bleibt, allen voran, das Flaggschiff „Stranger Things“. Die vierte Staffel soll sagenhafte 30 Millionen Dollar pro Folge gekostet haben, das wären insgesamt 270 Millionen Dollar. Die sieht man auch, obwohl – und das ist die wichtigere Nachricht – die Duffers weiterhin großes Gewicht auf die Beziehungen zwischen den Protagonisten legen, alte Freundschaften werden erneuert, neue geschlossen, erloschen geglaubte Gefühle wieder angefächert.

Die Erwachsenen kommen dabei entschieden zu kurz. Der totgeglaubte Polizeichef Hopper (David Harbour) wird in einem russischen Lager gefangen gehalten, dass seine heimliche Liebe Joyce (Winona Ryder) nach ihm sucht, versteht sich von selbst – doch keiner dieser getrennten Handlungsstränge ist so befriedigend, wie die endlose Streiterei zwischen den beiden Sturköpfen.

Die größte Veränderung im Vergleich zu den vorhergehenden Staffeln ist der erhöhte Gruselfaktor, Knochen werden verrenkt, Traumata aufgebrochen: Die Kinder von einst sind zusammen mit Netflix groß geworden. Und die Erwachsenenwelt ist beängstigender als das Upside Down, für die Teenager ebenso wie für den Streamingdienst.

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