Thea Dorn zu Corona-Schutzmaßnahmen„Das ist staatlich verordnete Trostlosigkeit“

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Thea Dorn auf der lit.Cologne im März 2019

Thea Dorn auf der lit.Cologne im März 2019

  • Thea Dorn über ihren neuen Roman zum Thema Corona und die humanen Flurschäden der Pandemie-Bekämpfung.

Frau Dorn, in Ihrem Briefroman zur Pandemie stirbt die Mutter der Hauptfigur an Covid-19. Sie haben hoffentlich selbst keinen solchen Verlust erlebt.

Meine Mutter ist vor 13 Jahren gestorben. Ich konnte während ihrer letzten Tage bei ihr sein. Während der Pandemie wurden Menschen jedoch zum einsamen Sterben verdammt, Angehörige daran gehindert, im Todesaugenblick bei ihren Liebsten zu sein. Aus dem Entsetzen über diese Tragik, dieses archaische Unrecht ist mein Buch entstanden. Bewusst als Roman, nicht als politischer Essay.

Warum?

Eben weil wir es mit einer Tragödie im klassischen Sinn zu tun hatten und haben: Um die Pandemie einzudämmen, war es nötig, Intensivstationen oder Menschen in Alters- und Pflegeheimen zu isolieren. Die Gebote der Pandemieeindämmung kollidieren aber mit den Geboten der Menschlichkeit. Bei echten Tragödien gibt es keine „alternativlosen“ und keine „richtigen“ Lösungen. Jede Entscheidung produziert, was ich einen „unversöhnten Rest“ nenne. Als Schriftstellerin geht es mir darum, davon zu erzählen.

Im Gegenüber des Gebotenen und des damit verbundenen Unrechts herrscht im Roman zunächst die Wut über Letzteres vor. Ihre Hauptfigur, die Tochter der Covid-Toten, schimpft über die „Seuchenrittmeister“.

Seit einem Jahr werden wir mit epidemiologischen Worst-Case-Szenarien traktiert. Vor diesem Hintergrund halte ich es für die Pflicht von Literatur, auch von jenen höchst realen „Worst Cases“ zu erzählen, in die Menschen durch die Kombination von Pandemie und „repressiven Maßnahmen“ gestürzt worden sind – wie Johanna in meinem Roman. Denn es wurden ja nicht nur Sterbende alleingelassen. Hinterbliebene, Trauernde wurden durch die Vorschriften des „Social Distancing“ in Isolation, Einsamkeit und Verzweiflung getrieben. In eine staatliche verordnete Trostlosigkeit, weil fast alles verboten war, was Menschen Trost gibt.

Sie legen nahe, dass Corona-Verstöße als Akt eines heroischen Aufbegehrens zu verstehen sind. Ein Gemeinschaftserlebnis wie eine Art illegaler Hausbesetzung.

Ich lege gar nichts nahe. Ich will deutlich machen, dass es nicht angeht, diejenigen, die am „Social Distancing“ verzweifeln, als „Covidioten“ zu verunglimpfen.

Was sollten Politiker tun?

Wir hören von ihnen permanent Appelle an unsere Vernunft und Disziplin in Sachen Pandemiebekämpfung. Aber sie reagieren gereizt, sobald man über die Kollateralschäden der Pandemiebekämpfung reden will. Selbst Mediziner halten es für unseriös, nur auf die Covid-19-Toten zu schauen, ohne hinzuzufügen, wie viele Menschen sterben, weil sie aus Angst auf Arztbesuche verzichten oder in Stress und Depression stürzen – was das Immunsystem massiv schädigt.

Die „schlimmste Seuche ist die Angst“, wie Sie schreiben?

Das sagt die Mutter in meinem Roman. Ich frage mich, warum Politiker lieber auf Experten hören, die immer schon die nächste Katastrophe am Horizont sehen, als auf jene, die weniger dramatische Szenarien erwarten. Wenn Politik nur noch Worst-Case-Vermeidung ist, gibt es keine Gestaltungsspielräume mehr.

Wer von der größeren Bedrohung ausgeht, muss sich zumindest nicht vorwerfen, die Gefahr unterschätzt zu haben.

Aber er öffnet der Angst Tür und Tor. Ich kann auf dem Weg zum Supermarkt von einem Raser überfahren werden – ein plausibles Worst-Case-Szenario. Irgendwann werde ich nur noch mit Angst aus dem Haus gehen. Oder eben gar nicht mehr.

Wie bekämpfen wir denn die „Seuche der Angst“?

Wir brauchen einen neuen Umgang mit Angst. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie unser Handeln dominiert. Es ist verwerflich, wenn von Anhängern einer „Zero“- oder „No Covid“-Strategie eine übertriebene Angst vor dem Virus geschürt wird. Denn, um im Bild meines Romans zu bleiben, die Komplementärseuche zur Angst ist die Wut, das dürfen wir nicht vergessen.

Gleichwohl ist jeder Mensch ängstlich oder wütend – zumindest dann und wann.

Selbstverständlich. Angst, Zorn, Wut sind tief verwurzelte Gefühle. Ich bin die Letzte, die empfehlen würde, sie zu unterdrücken oder sich abzutrainieren. Trotzdem sind sie im politischen Raum hochgefährlich. Deshalb brauchen sie andere Räume, in denen sie sublimiert zu ihrem Recht kommen. Ein Raum für die dunklen Gefühle ist die Kunst, die Literatur. Die zornigen Sätze, die Johanna in meinem Roman immer wieder von sich gibt, will ich von keinem „Wutbürger“ auf den Stufen des Reichstagsgebäudes hören. Da wäre ich die Erste, die „Stopp“ riefe. Aber in einem Roman, nachts am Schreibtisch in einem Brief an einen Freund, muss eine literarische Figur hemmungslos wüten dürfen.

Wenn die Angst aber nun berechtigt ist, was in der Corona-Krise bei Risikopatienten zweifellos der Fall ist?

Die Angst aller Ängste, zumindest in unserem Kulturkreis, in unserer Epoche, ist die Todesangst. Sie ist ohne Zweifel realistisch, denn wir werden tatsächlich allesamt sterben. Anders als die Menschen zu früheren Zeiten oder an anderen Orten gehen wir Spätmodernen mit unserer Todesangst eigentlich nur noch verdrängend um. Daraus ergibt sich natürlich die Frage, ob es nicht sinnvoller wäre, der Angst vor einem Ereignis, das mit hundertprozentiger Sicherheit eintreffen wird, anders zu begegnen. Ich denke, es wäre klüger, zu dem zurückzukehren, was im Mittelalter „ars moriendi“ genannt wurde. Bei der „Kunst des Sterbens“ ging es nicht nur um ein „gutes Sterben“, sondern vor allem um die Frage, wie der Mensch im Bewusstsein seiner eigenen Sterblichkeit gelassen, würdevoll, ja heiter leben kann.

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Die Religionen halten dafür verschiedene Antworten bereit, mit denen sie Menschen Halt und Trost geben. In Ihrem Buch heißt es einmal: Nur der Mensch kann etwas vertiefen, der auch eine klare Ausrichtung nach oben hat. Würden Sie demnach auch als Agnostikerin sagen, Gläubige sind im Vorteil?

Gott fehlt uns, ja. Ich mag in Nietzsches „Gott ist tot“ nicht triumphierend einstimmen, auch wenn ich denke, dass die Beobachtung stimmt.

Woher kommt dann Trost?

Getröstet zu sein, ist ein Gefühl, das sich weder durch Argumente noch auf Befehl einstellt. Es kommt also auf die Bedingungen an, unter denen Trost entstehen kann. Und da finde ich die deutsche Sprache mit ihrer Nähe zwischen den Begriffen „Trost“, „Trutz“ und „Trauen“ sehr weise. Denn Trost entsteht aus Festigkeit, Halt, Getragensein. Erinnern Sie sich an Margot Käßmanns legendären Satz beim Rücktritt von allen Ämtern? „Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand.“ Das ist das ultimative Trostwort.

Was aber tun, wenn man nicht an Gott glaubt?

Ein erster Schritt besteht darin, das Fehlen Gottes als Leerstelle anzuerkennen und zu sagen, wir werden diese Leerstelle nicht durch medizinisch-technologische Sicherungssysteme füllen. So effizient uns diese im Alltag vor Gefahren bewahren – sie ersetzen nicht das Gefühl existenziellen Halts, sie schenken uns nicht das Glück, im Tiefsten und Letzten geborgen zu sein. Beim Schreiben meines Buches habe ich die interessante Erfahrung gemacht, dass mich bereits das Umkreisen dieser Leerstelle getröstet hat.

Autorin und Buch

Thea Dorn (eigentlich Christiane Scherer), geboren 1970 in Offenbach, wuchs in Frankfurt/M. auf und studierte in Berlin. In der Kulturszene ist sie gleicherweise als Bühnen- und Romanautorin, Filmemacherin, Literaturkritikerin und Fernsehmoderatorin präsent. Seit März 2017 ist sie festes Ensemblemitglied in der ZDF-Sendung „Das Literarische Quartett“, seit 2020 Moderatorin.

„Trost. Briefe an Max“ ist bei Penguin erschienen, umfasst 176 Seiten und kostet 16 Euro.

„Am Ende sei keiner allein“ – liege ich richtig, wenn ich in diesem Zitat Ihre Quintessenz für Trost sehe?

Ein Motto frei nach Gottfried Benn, ja.

Welches sind dann für Sie die Topkandidaten zur Einsamkeitsüberwindung?

Mich persönlich tröstet der Gedanke, ein winziges Steinchen im riesigen Mosaik der europäischen Kultur mit ihrer zweieinhalbtausendjährigen Geschichte zu sein. Was mir die Kunst ist, ist vielen die Natur. Nicht umsonst haben Einsiedler sich ihre Behausung in der Natur gesucht. Für die allermeisten, auch für meine Johanna, bleibt jedoch das Tröstlichste die Nähe zu anderen. Deshalb ist „Social Distancing“ eine solch gewaltige Maschinerie der Trostlosigkeit.

Das Gespräch führte Joachim Frank

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