Theater im LockdownStreamen oder nicht-streamen, das ist hier die Frage

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Eva Maria Nikolaus in der Hamburger Streaming-Premiere von „Geschichten aus dem Wiener Wald“ 

Köln – Nur unwillig sind die Theater in den zweiten Lockdown gegangen. Nun harren sie der Dinge, haben ihre für November angesetzten Premieren hoffnungsfroh auf Anfang Dezember verschoben, und verdrängen die leise Vorahnung, dass der Lockdown kurzfristig verlängert werden könnte.

In diesem Kontext kann man Thomas Ostermeiers Einwurf nur zu gut verstehen. Der Intendant der Berliner Schaubühne hat vorgeschlagen, die Theater gleich den gesamten Winter über  zu schließen und stattdessen den Sommer, wo doch eigentlich Theaterferien anstünden, durchzuspielen. Dann handelte man wenigstens wieder pro- statt nur reaktiv. Eine Selbstermächtigung der Kunst aus dem Verzicht heraus.

Das klingt immerhin besser, als der pathetische Ausruf „Wir wollen spielen! Wir müssen spielen“ in einem Offenen Brief der Münchner Bühnen an den bayerischen Ministerpräsidenten.  Denn darauf kann man nur mit der Schulter zucken und Köpfe tätscheln: Klar willst du, geht halt gerade nicht.

Oder man macht es wie Karin Beier in Hamburg und setzt die nächste Premiere als Livestream an. Und das ging so:

Ob man das mal zeigen könne, fragt Karin Beier den Mann hinter der Kamera. Woraufhin der das Bild über die leeren Reihen im Deutschen Schauspielhaus schwenkt. Gerade hat die Intendantin der  Hamburger Bühne das Publikum begrüßt, nur eben nicht im Saal, sondern an den Endgeräten. Beier hat sich entschlossen, die nächste  Premiere nicht zu verschieben, sondern als Livestream  stattfinden zu lassen. Oder, wie sie sagt, als Geistervorstellung.

Gespielt wird Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ und die Regisseurin Heike M. Götze hat Horváths Kleinbürgern aus dem 8. Wiener Bezirk Stoffmasken verpasst, die hier allerdings nicht nur Mund und Nase, sondern das gesamte Gesicht bedecken. Es geht auch nicht um Covid-19, sondern um das Ziel des Dramatikers, die scheinbar so nahbaren Volkstheater-Figuren – das süße Mädel, den schneidigen Studenten – zu demaskieren.

Das gelingt paradoxerweise umso besser, je radikaler die Darsteller ihrer Mimik beraubt sind. Sie sind höchstens halbfertige Menschen. Puppen, die von einer Sprache der Lieb- und Rücksichtslosigkeit gesprochen werden, wie sie der Autor im Österreich der späten 1920er Jahre ausmachte. Bühnenbild, Kostüm (beides von der Regisseurin selbst besorgt) und die spukhaften Klänge von Fabian Kalker treiben der Aufführung noch jeden Rest von Gemütlichkeit aus.

Die Bühne ist nackt, bis auf den titelgebenden Wald, der von einigen kränklichen Bäumen versinnbildlicht wird, die wipfelüber vom Schnürboden hängen. Dazu Schweinehälften, ein Waschbecken und eine Toilette, die letzteren frei stehend. 

Zwangshandlungen

Die Vermummten vollführen hospitalistische Zwangshandlungen an ihnen. Diese folgen bekanntlich dem massiven Entzug sozialer Interaktionen, will meinen: Wir, an den Endgeräten, können das gerade  gut nachvollziehen.

Auch sonst gleicht diese Geistervorstellung einer Geisterbahn, inklusive irren Joker-Lachens. Das Drama um die Tochter des „Zauberkönigs“ – Josef Ostendorf dringt als Puppenklinik-Patriarch auch unterm Tuch bis in die imaginäre letzte Reihe vor – spult sich leidenschaftslos ab, wie von animatronischen Figuren nachgespielt.

Maske und Kopfhörer

Horváths Sätze stehen quasi abstrakt und umso bösartiger funkelnd im Raum. Noch dazu macht es der Livestream oft unmöglich, den Text einem Sprecher zuzuordnen. Und wenn sich, zum Höhepunkt der Aufführung, jeder der Maskenträger einen Kopfhörer aufsetzt und allein zu einer Musik tanzt, die jeweils nur er oder sie hören kann, während die Kamera wild zwischen den Tanzenden herumfährt und die Bildregie diese überblendet, dann  ist man sich plötzlich ganz sicher, dass Heike M. Götze hier etwas über das desensibilisierte Jahr 2020  erzählt. 

Den Verzweiflungsmord der Puppenklinik-Tochter an ihrem unehelichen Kind hat die Regisseurin ganz ans Ende gestellt. Eva Maria Nikolaus hat ihr verhüllendes Tuch aus- und ein Brautkleid angezogen. Jetzt bespritzt sie eine Babypuppe leidenschaftslos mit Theaterblut. Was man wohl gefühlt hätte, fragt man sich unweigerlich, wäre man vor Ort gewesen?

Auch Köln streamt

Am 20. November meldet sich auch das Schauspiel Köln mit einer Livestream-Premiere aus dem Lockdown und toppt noch das Hamburger Format: Haus-Choreograf Richard Siegal hat sein neues Tanzstück „All for one and one  for the money“ zum virtuellen Hybrid-Format umgearbeitet: Während sein Ballet of Difference live im Depot 2 tanzt, kann der an den Bildschirm verbannte Zuschauer zu Schauspielern in anderen Räumen des Hauses schalten, sich mit ihnen per Messenger unterhalten.

Auf die Dauer ist auch das selbstverständlich keine Lösung. Muss es aber auch gar nicht sein: Am Ende ergeben sich aus solchen Versuchen viel eher zukunftsträchtige Lösungen, als aus den großen Befreiungsschlägen. Die digitale Geisterbahn muss keine Einbahnstraße sein. 

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