Isabel Schayani im Interview„Als Kinder des Friedens kennen wir das nicht“

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Isabel Schayani berichtet von der ukrainischen Grenze. 

  • WDR-Journalistin Isabel Schayani berichtet seit Anfang des Krieges in der Ukraine von der polnisch-ukrainischen Grenze.
  • Bei „hart aber fair“ schilderte sie die Lage und sagte „ich kann das gar nicht begreifen“ – der Ausschnitt ging viral, weil er wohl das Gefühl von vielen erfasste.
  • Im Interview spricht sie über ihre Eindrücke, Erlebnisse mit Flüchtenden und vergleicht die Lage zu anderen Migrationen.

Frau Schayani, Sie sind zurzeit an der Grenze zwischen Polen und der Ukraine. Sie haben Anfang der Woche in „hart aber fair“ gesagt, dass Sie gar nicht begreifen, was da geschieht. Wie nehmen Sie die Situation im Moment wahr? Isabel Schayani: Man kann das nicht begreifen. Das ist jenseits unseres Fassungsvermögens, was auch damit zu tun hat, dass wir eine Friedensgeneration sind und uns weder vorstellen können, warum man freiwillig in den Krieg zieht, um sein Land zu verteidigen, noch was es bedeutet, mit nur einem Tagesrucksack zu fliehen. Man sieht das, ich spreche gemeinsam mit dem Übersetzer mit den Menschen, aber man kann nicht begreifen, welche Dimension das hat, welch völliger Zusammenbruch einer normalen Biografie das ist.

Der Krieg dauert nun schon zwei Wochen. Nehmen Sie Menschen, die nun ankommen, anders wahr?

Es kommt viel mehr Hass auf. Jetzt trifft man Menschen, die schon wirklich etwas erlebt haben. Anfangs hatten die Menschen, die gegangen sind, einen großen Trennungsschmerz, aber jetzt kommen Leute, die vor Bombardierungen weggelaufen sind. Gestern habe ich ein Interview gemacht mit einer Frau, die mir etwas zweimal erzählen musste, bis ich es verstanden hatte. Sie saß in einem Bunker, und einer ist reingekommen und hat geprahlt, er habe draußen Russen umgebracht.

Sie hat das nicht geglaubt, ist raus gegangen, und auf dem Spielplatz lagen tatsächlich sechs tote Russen. So etwas kann man auch bei Social Media sehen, aber das ist so weit weg von unserem westlichen Erleben, das bekommt man nicht zusammen. Ich komme aus einer friedlichen, behüteten Welt, und da ist jemand vor Bomben weggelaufen. Es macht sehr viel aus, dass wir als Europäer Kinder des Friedens sind. Wir kennen das nicht.

Zur Person

Isabel Schayani wurde 1967 in Essen geboren. Nach dem Abitur studierte sie Islamwissenschaften, Neuere Geschichte und Völkerrecht in Bonn (Magister). Im Anschluss volontierte Schayani beim WDR und wurde Redakteurin im ARD-Morgenmagazin. Danach wechselte sie zum Magazin „Cosmo TV“ (WDR), das sie bis 2006 moderierte.

Von 2005 bis 2014 war Schayani Redakteurin bei „Monitor“, kommentierte zudem in den „Tagesthemen“. Von 2014 bis 2015 war sie ARD-Korrespondentin in New York City.

Seit Januar 2016 ist Schayani verantwortlich für das Online-Projekt „WDRforyou“, das in persischer, arabischer, englischer und deutscher Sprache herausgebracht wird. Sie kommentiert nach wie vor für den WDR in den Tagesthemen und gehört seit 2016 zum Moderatorenteam des „Weltspiegel“ (ARD).

Sie haben aus vielen Flüchtlingslagern berichtet. Aber diese Menschen fliehen aus einem europäischen Land. Entsteht da eine andere Nähe?

In Moria etwa ist mir das auch sehr nah, weil ich direkt mit den Menschen sprechen kann, keinen sprachlichen Filter habe. Hier ist es so, dass die Menschen aus einer ähnlich entwickelten Gesellschaft kommen. Die bringen hier alle ihre Haustiere mit. Wenn man die Kinder nach ihren Hobbys fragt, sagt etwa die zwölfjährige Elena zu mir: Ich habe Klavier gespielt im Konservatorium und zeigt mir ein Video. Das ist meine Welt, das ist Erste Welt. Da spürt man direkt eine Verbindung. Die sind auch alle so gekleidet, dass man denkt, sie fahren ins Landschulheim. Unser Klischee von jemandem, der vor Krieg flieht, ist eben nicht, dass er genauso gekleidet ist wie wir.

In Polen gibt es eine Welle der Hilfsbereitschaft, gleichzeitig werden Geflüchtete, die etwa aus Syrien kommen, mit Härte zurückgedrängt. Wie erleben Sie diesen Widerspruch?

Menschen aus Syrien betrachten die Menschen hier nicht als Flüchtlinge, sondern als Migranten. Es sind hier auch mindestens 1500 Menschen, die um Asyl gebeten haben, in geschlossenen Anstalten. Die besondere Notlage entlang der belarussischen Grenze ist nach wie vor genauso groß, mit viel Polizei und Militär verhindern sie dort, dass die Menschen rüberkommen. Ich hatte hier auch schon Diskussionen darüber, dass diese Menschen ja keine Flüchtlinge seien. Wenn die dort Krieg hätten, würden sie nicht ihre Männer schicken. Und wenn ich dann sage, aber überleg doch mal, wie lange sie vielleicht schon gekämpft haben, bevor sie geflohen sind, sagen sie, wenn Krieg ist, müsse ein Mann kämpfen und nicht weglaufen.

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Das sind komplett andere Kategorien?

Ja, die einen bekommen nicht mal einen Schluck Wasser, den anderen gibt man über Monate ein Zimmer und Bett mit einer Selbstverständlichkeit und Großherzigkeit, die ich noch nicht erlebt habe. Das ist sehr beeindruckend. Man darf auch nicht alles kleinreden, in dem man sagt, ja aber hintenrum seid ihr doch Rassisten. Das sind zwei Seiten eines politischen Systems. Die eine ist außergewöhnlich beeindruckend, die andere ist ganz schön bitter.

Im Moment ist die Hilfsbereitschaft groß, aber wie lange kann Polen das durchhalten?

Die Selbstverständlichkeit, mit der die Polen helfen, ist beeindruckend. Aber wie bei jeder zyklischen Entwicklung kann man das nicht ewig durchhalten. Im Moment sind die Helfer weniger geworden, das liegt vielleicht auch daran, dass kein Wochenende ist. Wie lange die Polen das durchhalten, fragen mich die Menschen hier oft. Wenn nun neun statt zwei Personen in einer Wohnung leben, ist natürlich die Strom- und Gasrechnung irgendwann deutlich höher. Das macht etwas mit dem Gastgeber. Das ist die Frage für die Menschen aus der Ukraine: Wie lang können sie die Gastfreundschaft nutzen? Ich habe mit einer Mutter für den „Weltspiegel“ gedreht, die für eine Woche nach Krakau eingeladen wurde - und gestern war der sechste Tag. Sie fragte mich, was sie nun machen solle.

Wie erleben Sie die Kinder?

Ich bin keine Psychologin, aber eine Kollegin hat mit einer ein Interview gemacht und mich darauf aufmerksam gemacht, dass die Kinder sehr ruhig sind. Da ist mir aufgefallen, dass man sie tatsächlich kaum hört. Sie rennen nicht rum, sie rufen nicht, sie weinen nicht. Heute, nach einer Woche, habe ich zum ersten Mal zwei Kinder laut weinen hören. Sie spüren, dass die Eltern jede Art von innerem Kompass verloren haben und nicht mehr wissen, wo sie stehen.

Und da sind wir wieder am Anfang des Gesprächs. Wir können das nicht nachvollziehen.

Nein, wir wissen nicht, wie es ist, aus dem Bus zu steigen und der Boden unter deinen Füßen bricht dir weg. Die große Kunst wird sein, dass wir diese Leute nicht in eine Opferperspektive rücken und immer nur sagen: Ihr Armen. Sie sind sehr stolz, möchten arbeiten und bald wieder zurück. Wir schauen jetzt mit unglaublichem Mitleid auf diese Menschen, was ja auch verständlich und richtig ist, aber wir müssen aufpassen, auf Augenhöhe zu bleiben. Sie wollen nicht bemitleidet werden.

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