Das neue „Buch für die Stadt“Schöne Zeit des Umbruchs

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Buch-für-die-Stadt-Autor 2014: Jochen Schmidt mit „Schneckenmmühle“

Buch-für-die-Stadt-Autor 2014: Jochen Schmidt mit „Schneckenmmühle“

Köln – Alles schon vergessen? Alles weit weg? Von wegen. Die Geschichte der DDR ist ein vibrierender Teil der deutschen Gegenwart. Mag sein, dass noch wenig darauf hindeutet, wie intensiv in naher Zukunft an die Vergangenheit im real existierenden Sozialismus erinnert werden wird, was war und was dann wurde, als es die DDR nicht mehr gab. Aber spätestens am 9. November, wenn des Mauerfalls vor 25 Jahren gedacht wird, wird es kein Halten mehr geben.

Es ist dann auch just der Tag gekommen, an dem die große Lese- und Literaturaktion „Ein Buch für die Stadt“ von Kölner Stadt-Anzeiger und Literaturhaus Köln zum zwölften Mal mit einer Matinee im Kölner Schauspiel eröffnet wird. Der Roman, den die Jury diesmal ausgewählt hat, passt zu diesem Tag wie ein Roman nur passen kann.

Das farbenfrohe, kluge, komische, wortwitzige, anrührende Buch „Schneckenmühle“ (C. H. Beck) von Jochen Schmidt erzählt nicht nur die Geschichte einer Adoleszenz, nämlich vom 14-jährigen Jens, der zum letzten Mal in ein Ferienlager reist. Er erzählt auch eine fulminante Alltagsgeschichte aus der DDR im Jahr des Mauerfalls. Denn Jens ist Bürger der DDR, und sein Ferienlager befindet sich im sächsischen Schneckenmühle.

Tanzen ist nicht sein Ding, Mädchen schon

So geht es in diesem fein komponierten Buch gleich um zwei lebensgeschichtliche Umbrüche: Jens wechselt die Lebensphasen, vom Kind zum jungen Mann, und sein Land wechselt die Staatsform, vom Sozialismus zur Demokratie. Ganz schön viel Stoff ist das – aber Schmidt meistert ihn mit scheinbar leichter Hand.

Die Faszination dieser Prosa liegt auch darin begründet, dass Jens all die Freuden und Ängste eines Jugendlichen erlebt, während um ihn herum eine Welt versinkt. Tanzen zum Beispiel – das ist überhaupt nicht sein Ding, Mädchen hingegen schon, Fußball auch. Das sind für ihn die wesentlichen Dinge des Lebens, die seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchen, so dass er gar nicht mitbekommt, was weltpolitisch um ihn herum geschieht. Als ihn die Eltern am Ende der Ferienlagerzeit abholen, machen sie ein ernstes Gesicht: „Sie wollen mir später etwas Wichtiges erklären, wenn wir eine Rast machen.“ Die Verhältnisse entwickeln sich nicht mehr im Schneckenmühlentempo, sondern jagen in Revolutionsraserei dahin – aber das ist eine andere Geschichte, die beginnt, wo Jochen Schmidts Roman endet. Da hat er die DDR längst mit ein paar Farbtönen versehen, die Westleser dort gemeinhin gar nicht vermuten.

Schmidt, 1970 in Ost-Berlin geboren, ist ein Autor, dem der öffentliche Auftritt keine Pein verursacht. So ist er Mitbegründer der Berliner Lesebühne „Chaussee der Enthusiasten“ und Mitglied der Autorennationalmannschaft. Er hat im Jahr 2000 seine ersten Erzählungen veröffentlicht und arbeitet auch als Kolumnist. Er freut sich auf seine Auftritte in Köln und der Region zwischen Eifel und Leverkusen, Bergheim und Bergisch Gladbach. Dass die Matinee ausgerechnet am 9. November stattfindet, ist für ihn auch aus privathistorischem Grund interessant: Es wird an dem Tag 44 Jahre alt.

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