Faszination True Crime„Das gute Gewissen, richtig über schlimme Taten zu fühlen“

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True Crime-Podcasts boomen regelrecht. (Symboldbild)

Köln – Egal ob Formate wie „ZEIT Verbrechen“, „Mordlust“ oder „Stern Crime“ – True Crime-Podcasts erfreuen sich seit einigen Jahren wachsender Beliebtheit. Die Begeisterung für Krimis ist dabei keineswegs neu, schließlich gehört der „Tatort“ seit Jahrzehnten fest zum Sonntagabend der Deutschen und Kriminalromane landen zuverlässig auf den Bestsellerlisten. Das Besondere an True Crime-Formaten: Sie handeln von echten Verbrechen. Doch was fasziniert die Menschen so am Bösen? An brutalen Fällen von Mord, Totschlag und Vergewaltigung?

Zu dieser Frage forscht die Medienpsychologin Johanna Schäwel an der Universität Hohenheim. Sie hat herausgefunden: Im Vordergrund stehen sowohl bei den fiktiven als auch bei den True Crime-Formaten die Nutzungsmotive Unterhaltung, Spannung und Entspannung sowie Erregung. In Bezug auf True Crime kommen auch die Motive Bildung und Information hinzu. Auch Eskapismus, also die Flucht aus dem eigenen Alltag spiele eine Rolle.

Das Rechtssystem ist für viele eine Black Box

Unterhaltung durch grausige Gewalt? Was sagt das über uns als Menschen aus? „Es ist nicht so, dass jemand, der sich so etwas anschaut, selbst gewalttätig oder gar zum Täter werden würde“, beruhigt Schäwel. Denn die Unterhaltung finde vielmehr auf einer Meta-Ebene statt, wie sie erklärt. Der Konsum von Kriminalgeschichten – und insbesondere von wahren Fällen – erzeuge zwar negative Gefühle wie Angst, Wut, Trauer oder Verzweiflung. Doch genau das sei gewollt, da man gleichzeitig wisse, dass diese Gefühle in Anbetracht solcher Taten richtig und sozial anerkannt seien. „Man hat also das gute Gewissen, ‚richtig‘ über schlimme Taten zu fühlen.“

Gerade bei den echten Fällen spiele auch häufig ein juristisches Interesse, ein Interesse am Rechtssystem und an der polizeilichen Aufklärungsarbeit eine Rolle, erklärt die Medienpsychologin. Wie Kriminalfälle gelöst werden, sei für Laien oft eine Art Black Box. „Durch True Crime bekommen wir einen Einblick, können diese Black Box also ein Stückchen öffnen.“

Zur Person

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Der Radiojournalist und Macher des Podcasts „Verbrechen von nebenan“ Philipp Fleiter.

Seit 2019 berichtet der Journalist Philipp Fleiter in seinem True-Crime Podcast „Verbrechen von nebenan“ von wahren Kriminalfällen.

Im Oktober 2021 ist zudem sein gleichnamiges Buch erschienen. 2022 geht er mit seinen Fällen auf Live-Tournee. Er wird unter anderem am 7. Mai in Düsseldorf zu sehen sein. (rel)

Der Radiojournalist Philipp Fleiter hat den Boom der True Crime-Podcasts in den vergangenen zwei Jahren am eigenen Leib erfahren. Damals stellte er die erste Folge von „Verbrechen von nebenan“ ins Netz, heute gibt es mehr als 60 Folgen und sein Podcast gehört zu den beliebtesten des Landes. Angefangen hat alles über seine Arbeit bei einem lokalen Radiosender in Ostwestfalen. Der Journalist berichtete selbst über Kriminalfälle. Seinen Einstieg in das Genre True Crime fand Fleiter schließlich über „Stern Crime“, „da habe ich zum ersten Mal erlebt, wie man Kriminalfälle eben auch aufbereiten kann: Nämlich nicht sensationsheischend, sondern spannend und fast schon szenenhaft, so dass man sich mitten im Geschehen wähnt.“

True Crime und Reality TV: Der Blick durchs Schlüsselloch

Seine ersten Folgen handelten von Fällen aus Fleiters eigener Gütersloher Nachbarschaft: „Die Betonleiche aus Rietberg“, der Missbrauchsskandal von Lügde, „der Todesengel von Gütersloh“. Er habe dann aber schnell gemerkt, dass Menschen aus ganz Deutschland seinen Podcast hören. „Ich habe die Fälle dann auf den gesamten deutschsprachigen Raum ausgeweitet, weil ich denke, es soll für jeden ein Verbrechen von nebenan geben.“

Dass Fleiters Podcast so erfolgreich wurde, hat für die Medienpsychologin Schäwel gute Gründe: „Echte Kriminalfälle aktivieren schon deshalb viel stärker, weil man weiß: das ist tatsächlich passiert. Man empfindet viel mehr Empathie für die Opfer und ihre Familien. Man lässt es also auch näher an sich heran.“

Generell seien die Menschen fasziniert, wenn sie am Leben von anderen Menschen teilhaben könnten, so Schäwel. „Das sehen wir auch immer wieder in Reality Shows.“ Doch während im Reality TV der Aspekt des auf- und abwärts gerichteten sozialen Vergleichs eine große Rolle spiele, nehme das bei „True Crime-Formaten natürlich eine ganz andere Ebene ein, weil die Dinge, um die es geht, schwerwiegender sind. Aber grundlegend fällt man auch da für sich selbst ein moralisches Urteil und kann sich damit von der grausamen Tat abheben.“

True Crime-Podcasts als gesellschaftlicher Aufarbeitungsprozess

Reality TV-Formate müssen sich immer wieder den Vorwurf des Voyeurismus gefallen lassen. Und auch True Crime-Formate bieten dem Publikum die Perspektive durchs Schlüsselloch in fremde Leben. Die Frage, ob es moralisch eigentlich vertretbar ist, das Leid anderer Menschen für den eigenen Grusel zu nutzen, schwingt in der Debatte um True Crime-Formate daher immer mit. Für die Medienpsychologin Johanna Schäwel ist jedoch entscheidend, dass „man sich nicht primär an dem Leid der Anderen unterhält. Denn der Unterhaltungsfaktor der Formate bezieht sich ja nicht nur auf die Beschreibung des Verbrechens, sondern auf das gesamte Konstrukt. Fragen also wie es dazu gekommen ist, was dazu geführt hat, wie es aufgelöst wurde? Dieses gesamte Puzzle ist eigentlich das primär Interessante.“

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Das sieht auch Fleiter so: „Mich interessieren vor allem die psychologischen Aspekte: Was ist der Punkt, an dem jemand falsch abbiegt und vom unbescholtenen Bürger zum Mörder wird? Aber auch Fragen wie: Was sagt das eigentlich über eine Gesellschaft aus? Welche Rolle spielt das Umfeld?“. Er thematisiere auch stets mögliche Warnhinweise und die Frage, wie man Verbrechen hätte verhindern können. Der True Crime-Podcast als gesellschaftlicher Aufarbeitungsprozess also.

Dennoch finde er, „diese Frage sollte man sich als True Crime-Podcaster immer wieder stellen, denn es geht in den Fällen um reale Schicksale, es geht um reale Menschen und Angehörige, die auch Jahre später noch mit dem Schmerz leben müssen.“ Es sei immer auch eine Gratwanderung, das Leid der Opfer nicht auszuschlachten. Stattdessen versuche er, die Opfer in den Vordergrund zu stellen, sagt Fleiter. „Denn oft ist es so: Du kennst den Mörder, aber du weißt nichts über die Opfer. In meinem Podcast versuche ich das zu ändern, und auch die Geschichten der Opfer zu erzählen.“  

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