Im Irrgarten des Alltags

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Das Wesen der Romantik, schreibt Oscar Wilde 1895, sei die Ungewissheit. Noch im selben Jahr wird der irische Dichter wegen seines Umgangs mit männlichen Prostituierten zu zwei Jahren Zuchthaus mit schwerer Zwangsarbeit verurteilt. Fünf Jahre später stirbt Wilde gänzlich unromantisch in einem Pariser Hotelzimmer mit den Worten: „Entweder geht diese scheußliche Tapete – oder ich.“ Er war sich seines literarischen Ruhms allzu gewiss gewesen, er konnte ihn nicht vor der Doppelmoral der viktorianischen Gesellschaft bewahren.

Ach, hätte Wilde nur geahnt, wie romantisch sich unser Leben gut 120 Jahre nach seinem Epigramm gestaltet! Denn die Ungewissheit ist das alles beherrschende Lebensgefühl unserer pandemischen Tage geworden. Von existenziellen Fragen wie der, ob ich eine eventuelle Ansteckung überleben werde, bis hin zu Luxusproblemen wie der Unmöglichkeit, seinen Urlaub zu buchen beziehungsweise den gebuchten Urlaub zu stornieren. Dass uns noch vor wenigen Wochen das Problem antrieb, ob im Supermarkt Toilettenpapier vorrätig sei, erscheint uns nachgerade obszön. Jetzt, wo wir um unsere Jobs und die zukünftige Ausbildung unserer Kinder bangen.

Wir sind Geiseln des Virus, starren auf eine Wand ohne Perspektive, wissen nicht, wann und ob wir in das Leben entlassen werden, das wir eigentlich geplant hatten. Stattdessen bestimmt und strukturiert die Ungewissheit unseren Alltag. Ja, sie ist längst unser Alltag, obwohl wir sie – vielleicht aus Selbstschutzgründen – als psychische Manifestation des Ausnahmezustandes wahrnehmen.

Tatsächlich prägen Unsicherheit und Ungewissheit wohl schon seit geraumer Zeit unseren Alltag, wie es der 2017 gestorbene Soziologe Zygmunt Bauman vor 13 Jahren feststellte. Laut Bauman durchleben wir gerade die Ära des Übergangs von der „festen“ zur „flüssigen“ Moderne. Will sagen, einst stabile gesellschaftliche Strukturen und Institutionen befinden sich nicht nur in einer Umbruchphase – sie lösen sich auf, ohne jemals wieder feste Form anzunehmen. Folglich macht es weder Sinn, langfristige Lebenspläne zu schmieden, noch sich sein Handeln institutionell absichern zu lassen. Das Leben wird episodenhaft, eine Wanderung im Nebelmeer der Ungewissheit.

Wenn Sie also mal wieder das Gefühl beschleicht, im Uferlosen zu schwimmen oder gar Spielball der Wellen zu sein, vertrauen Sie Ihrem Gefühl: So geht es mehr oder weniger allen.

Nun könnte man argumentieren, dass Sicherheit und Gewissheit von jeher illusorisch sind, die verzerrte Wirtschaftswunderwahrnehmung einer Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg im reichen Westen geboren ist. Eine lokale und temporale Anomalie.

Wie unsicher der Grund ist, auf dem wir stehen, hat der englische Statistiker Dennis Lindley in seiner Monografie „Understanding Uncertainty“ („Ungewissheit verstehen“) formuliert: „Du bist dir, zu unterschiedlichen Graden, über alles in der Zukunft ungewiss; große Teile der Vergangenheit sind vor dir verborgen; und über vieles in der Gegenwart fehlen dir die vollständigen Informationen. Die Ungewissheit ist überall und du kannst ihr nicht entkommen.“ Selbst die Tatsache, dass diese Feststellung auf jeden einzelnen Menschen zutrifft, stellt laut Lindley keinen Trost dar. Ungewissheit, schreibt er, ist eine persönliche Angelegenheit: „Es geht nie um die Ungewissheit, sondern immer um deine Ungewissheit.“

Seine eigene Ungewissheit aber erlebt man als Machtlosigkeit und die eigene Machtlosigkeit als Demütigung. Es gibt aber nichts Schlimmeres für das Individuum, um den unsentimentalen Menschenkenner Georges Simenon zu zitieren, als die Demütigung. Gedemütigte Menschen fühlen sich von der Gemeinschaft ausgestoßen und handeln dementsprechend.

In Simenons großem Roman „Der Mann, der den Zügen nachsah“ wird der Prokurist Kees Popinga von einem Tag auf den anderen aus seiner biederen, aber verlässlichen Existenz gerissen. Beinahe enthusiastisch stürzt er sich in diese neue Ungewissheit, pfeift auf gesellschaftliche Konventionen, die er zuvor akribisch befolgt hat, und gehorcht fortan allein seinen Launen und lange unterdrückten Wünschen.

Das muss nichts per se Schlechtes sein. Warnen nicht Gründerseminare davor, bequem in der Unzufriedenheit zu verharren, und werben stattdessen dafür, die eigene Ungewissheit zu akzeptieren, ohne die unternehmerische Entscheidungen nun mal nicht möglich seien? Mutig, wer sich der Ungewissheit stellt. Klingt doch gut. Für Simenons Allerweltsmann jedoch endet die Entscheidung, endlich jene Züge zu betreten, denen er sonst nur nachzusehen pflegte, im Irrenhaus.

Ja, wir müssen die Ungewissheit akzeptieren, es gibt gegen sie nämlich keinen Impfstoff. Aber wir brauchen auch ganz unromantischen Schutz vor ihr.

Foto: 20th Century Fox

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