Kolumne Alles, was Recht istEs gibt gute Gründe für das Kirchenasyl

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Michael Bertrams

Köln – In Deutschland leben mehrere Zehntausend Flüchtlinge ohne Bleiberecht. Sie müssen unser Land verlassen, weil sie in ihrer Heimat weder von politischer Verfolgung noch von sonstigen Gefahren für Leib oder Leben bedroht sind, oder weil ein anderer Staat der Europäischen Union (EU), in dem sie erstmals europäischen Boden betreten haben, aufgrund der Dublin-Verordnung für die Durchführung ihrer Asylverfahren zuständig ist. Reisen die Flüchtlinge nicht freiwillig aus, droht ihnen der Staat die Abschiebung an. Hiergegen legen die Flüchtlinge in der Regel Rechtsmittel ein. Bleiben diese erfolglos, wenden sich manche Flüchtlinge an die christlichen Kirchen mit der Bitte, ihnen „Kirchenasyl“ zu gewähren und sie damit vor einer Abschiebung zu schützen.

Die Zahl der Fälle, in denen dieser kirchliche Schutz tatsächlich gewährt wird, ist vergleichsweise gering. Die ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“ beziffert sie für November 2017 bundesweit mit 348, während das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) von Mai bis September 2017 679 Fälle gezählt hat.

Heftige Kontroversen um Kirchenasyl

In NRW gab es Ende August 2017 etwa 100 Fälle von Kirchenasyl, davon mehr als 60 bei der Evangelischen Kirche im Rheinland. In der Mehrzahl geht es dabei um die erwähnten Dublin-Fälle, also um eine Abschiebung der Flüchtlinge in das Land ihrer ersten Einreise nach Europa, insbesondere nach Griechenland, Italien, Bulgarien oder Ungarn.

Trotz ihrer geringen Zahl führen Fälle von Kirchenasyl regelmäßig zu heftigen Kontroversen. Während die Kirchen darauf verweisen, die Aufnahme und der Schutz bedrohter Flüchtlinge gehöre zu ihrem biblischen Selbstverständnis, halten Kritiker der kirchlichen Asylgewährung entgegen, diese erhebe sich über das allein maßgebliche staatliche Recht, stelle Humanität über Legalität und bewirke damit eine Aushöhlung des Rechtsstaats.

Unser Kolumnist, Jahrgang 1947, war von 1994 bis 2013 Präsident des Verfassungsgerichtshofs NRW. Er schreibt im „Kölner Stadt-Anzeiger“ über aktuelle Streitfälle sowie rechtspolitische und gesellschaftliche Entwicklungen.

An dieser Kritik ist richtig, dass die Gewährung von Kirchenasyl einen Rechtsverstoß beinhaltet. Denn sie vereitelt eine rechtmäßige Abschiebung, also die Durchsetzung geltenden Rechts. Gleichwohl sehen sich die Kirchen – meines Erachtens zu Recht – im Rahmen der grundgesetzlichen Glaubens- und Gewissensfreiheit in Verbindung mit ihrem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht dazu befugt Kirchenasyl zu gewähren. Sie betrachten ihr Handeln als eine kirchenrechtliche „Interzession“, das heißt als seelsorgerlichen und diakonischen Beistand für Bedrängte gegenüber staatlichen Organen. Ein Widerstandsrecht gegen den Staat leiten die Kirchen daraus nicht ab. Sie erkennen vielmehr an, dass die zuständige Ausländerbehörde gegebenenfalls eine Abschiebung durchsetzen kann. Das Institut des Kirchenasyls soll aber eine neue Gesprächssituation zwischen dem Staat und den in Obhut genommenen Flüchtlingen herbeiführen, begleitet von der Kirche.

Auf der Basis dieses vom Staat grundsätzlich respektierten Selbstverständnisses der Kirchen haben diese im Jahre 2015 mit dem Bundesamt eine Vereinbarung für „Härtefälle“ getroffen. Die Regelung soll jetzt – Anfang des Jahres 2018 – auf den Prüfstand gestellt werden. Sie sieht vor, dass der Staat in Härtefällen nicht eingreift und es akzeptiert, die Abschiebung während der Dauer des Kirchenasyls noch einmal juristisch überprüfen zu lassen. Im Gegenzug sind die Kirchengemeinden als Asylgeber vor Ort verpflichtet, jeden Einzelfall sowohl den staatlichen Behörden als auch den zuständigen kirchlichen Stellen zu melden und das Kirchenasyl bei einem negativen Ergebnis der erneuten Überprüfung dann auch zu beenden. Die Gemeinden sollen Flüchtlingen also nicht heimlich Unterschlupf gewähren.

Vereinbarung hat sich bewährt

Fraglich bleibt, wann von einem „Härtefall“ auszugehen ist. Kirchenvertreter weisen darauf hin, jeder Einzelfall von Kirchenasyl werde zuvor streng geprüft. Es sei nicht Alltagspraxis, sondern „Ultima Ratio“, also das letzte Mittel, um drohende Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Das ist richtig. Allerdings sind bei drohender Abschiebung etwaige Gefährdungen des Flüchtlings in seiner Heimat oder im EU-Staat der ersten Einreise in der Regel bereits von den zuständigen Behörden und Gerichten geprüft und verneint worden.

Entscheidend für die Gewährung von Kirchenasyl kann vor diesem Hintergrund nur sein, dass eine entsprechende Prüfung auf staatlicher Ebene unterblieben oder unzureichend gewesen ist und die Kirchen in der Lage sind, neue, bislang nicht geprüfte Gefährdungsaspekte vorzutragen.

In der großen Mehrzahl aller Fälle von Kirchenasyl seit 2015 ist den Kirchen dies gelungen. Die Vereinbarung von 2015 hat sich bewährt.

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