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Leserbriefe zu Schul-Eklat in SiegburgDialog fördern statt Gräben vertiefen

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Eine Aufgabe in einem Philosophie-Lehrbuch für die Sekundarstufe II hat einen Eklat an einem Siegburger Gymnasium ausgelöst. 

„Zugespitzt und klischeehaft“ – Eine Zwangsheirat als Thema, um ethische Normen zu behandeln, hat einen Schul-Eklat in Siegburg ausgelöst (16.2.)

Integrationsprobleme anpacken

Die Aufgabe im Philosophiebuch steht im Kontext der Thematik von Kulturrelativismus und -universalismus, also im Rahmen der Fragestellung, ob bestimmte kulturelle Prägungen es erlauben, von der Geltung universaler Menschenrechte Abstand zu nehmen. Die Aufgabe fördert bei entsprechender Einbettung durch die Lehrkraft keineswegs abwertende Stereotypen, sondern thematisiert werden reale Probleme und unterschiedliche Sichtweisen vor dem Hintergrund des Werteverständnisses des Grundgesetzes.

Aufgabe von Schule sollte es gerade nicht sein, problematische Verhaltensweisen – ob bei Türken oder Deutschen – und unterschiedliche Anschauungen zu verschweigen, sondern zum geregelten, rücksichtsvollen und wertebasierten Diskurs anzuregen. Konkret geht es ja gerade darum, individuelle, im Grundgesetz garantierte Rechte auf persönliche Selbstbestimmung gegen zum Teil auch kulturell geprägte, traditionelle patriarchalische Vorstellungen von Ehe und Familie zu diskutieren und in ihren Konsequenzen abzuwägen. Gleiches gilt für das Spannungsfeld von persönlichen, menschlich nachvollziehbaren Interessen nach Familienzusammenführung und gesetzlichen Regelungen beim Aufenthaltsrecht.

Gerade dies fördert rechtsstaatliches und menschenrechtsbasiertes Denken und Handeln, das immer Konflikte einschließt. Demokratie muss solche Konflikte aushalten, und Schule muss dazu beitragen, sie offen und fair auszutragen. Vorschnelle Tabus sollte es dabei nicht geben. Nur so kann man Integrationsprobleme wirklich anpacken. Eine „shitstorm“-fördernde Skandalisierung einer sicherlich konfliktträchtigen Aufgabe fördert die notwendigen Anstrengungen zur Integration auf beiden Seiten nicht.Silvia Rösgen-Tervooren und Klaus Tervooren Siegburg

Anwaltspost vertieft Gräben, statt Dialog zu fördern

Wie die Diskussion über den beschriebenen Fall einer Zwangsheirat inhaltlich geführt wurde, erfahren wir im Zeitungsartikel leider nicht. Und das ist meines Erachtens das Entscheidende! Ich gehe davon aus, dass der Lehrer im Gespräch mit den Schülern und Schülerinnen keine Vorurteile geschürt, sondern vielmehr den Blick darauf gelenkt hat, dass in einer multikulturellen Gesellschaft wie Deutschland unterschiedliche Traditionen aufeinandertreffen. Das gilt es sachlich festzustellen, für daraus resultierende mögliche Konflikte zu sensibilisieren und mögliche Lösungsansätze zu suchen.

Unter dem Vorwurf der Diskriminierung machte der Solinger Anwalt Fatih Zingal, der laut Wikipedia der Regierungspartei des türkischen Präsidenten Erdogan nahe steht, diesen Fall öffentlich. Für ihn ist dieser Fall „wieder ein Beispiel dafür, dass auch unser Bildungssystem durchzogen ist von Ressentiments und latentem Rassismus“. Ob das so stimmt, sei dahin gestellt. Auffallend ist, dass er in diesem Zusammenhang aber selbst ein Vorurteil verbreitet, indem er in seinem Post schreibt: „Ich möchte nicht wissen, wie viele türkeistämmige Schüler von diesen Lehrkräften in der Vergangenheit benachteiligt wurden.“ Das ist eine Unterstellung. Sie hilft niemandem, sondern vertieft Gräben und fördert nicht den Dialog.Christa Wehner Weilerswist

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Autoren mit wenig Einsicht in Brisanz der Aufgabenstellung

Dass es in einer aufgeklärten Gesellschaft möglich sein muss, real existierende Konflikte vor allem am Lernort Schule mehrperspektivisch zu thematisieren, ist ein grundlegender Bestandteil des Bildungsauftrags, dem Lehrende, Schulbuchautoren und -verlage verpflichtet sind. Wenn sich nun die Autorinnen und Autoren zur Rechtfertigung ihrer Aufgabenstellung in ihrem Philosophie-Unterrichtswerk für die Jahrgangsstufe 10 dieses Wertearguments bedienen, dann zeigt das wenig Einsicht in die spezifische Brisanz, die in ihrer Situationsformulierung steckt.

Es geht nicht um die Zwangsverheiratung, sondern um die Begründung dafür, also nicht primär um die väterliche Fürsorge für die Tochter, sondern um die Aufenthaltsgenehmigung und Existenzsicherung für den Neffen. Die hierin steckende Unterstellung des widerrechtlichen Erschleichens von Vorteilen macht die Aufgabenformulierung äußerst fragwürdig und lässt den Schülerinnen und Schülern keinen Spielraum für einen Ressentiment-freien Diskurs.

Zu hoffen bleibt, dass der Lehrer die Aussprache über die Arbeitsergebnisse seiner Schülerinnen und Schüler klug und pluralistisch wertschätzend gestaltet hat, um die befürchtete erneute Befeuerung von Diskriminierung gesellschaftlicher Gruppen zu verhindern. Problematisch bleibt die mangelnde Einsicht der Autorenschaft. Aber immerhin hat der Cornelsen-Verlag die Reißleine gezogen.Karin Kampa Köln

Zwangsheirat nicht ignorieren oder tabuisieren

Sie berichten über einen „Eklat“ wegen eines Fallbeispiels in einem Philosophielehrbuch für die gymnasiale Oberstufe. Wenn ich das Ganze richtig verstanden habe, geht es in der Unterrichtseinheit um die Frage, wie die deutsche Gesellschaft mit interkulturellen Konflikten umgehen sollte. Muss sie auf der Verbindlichkeit ihrer Werte und Regeln bestehen oder sollte sie sich kulturrelativistisch verhalten und für Minderheiten Ausnahmen gestatten?

Dies ist ein zweifellos höchst relevantes gesellschaftliches und philosophisches beziehungsweise ethisches Thema, das natürlich in den Philosophieunterricht gehört. Um ein solches Thema zu behandeln, braucht es Beispiele. Wenn Zwangsverheiratungen ganz sicher nicht der Normalfall in der türkischen Community sind, so gehören doch auch Zwangsehen oder zumindest arrangierte Ehen irgendwo zur gesellschaftlichen Realität. Soll unsere Gesellschaft solche Phänomene ignorieren oder tabuisieren? Wem wäre damit geholfen? Hans-Otto Wingenbach Köln

Lehrkräften wird Maulkorb verpasst

Zwangsheirat ist in Deutschland kein Massenphänomen, aber es kommt sehr wohl vor und ist nach Paragraf 237 Strafgesetzbuch strafbar. Die polizeiliche Kriminalstatistik meldet 82 Fälle von Zwangsverheiratungen für das Jahr 2020. Auf diversen Beratungsplattformen, etwa von „Terres des Femmes“ oder der „Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes“ wird das Thema ausführlich beschrieben und Hilfe angeboten. Und wer genau „kritisiert“ da die Schule in welcher Form?

Ein der AKP nahestehender Anwalt fühlt sich beleidigt, polemisiert in den sozialen Medien und es ergießt sich ein Shitstorm über die Schule. Daraufhin knickt die Schule ein und entschuldigt sich. Für was, frage ich mich? Dafür, dass sie ihren Schülern die Grundlagen eines philosophischen Diskurses beibringen möchte? Mir tun die Lehrkräfte leid, denen sozusagen ein Maulkorb verpasst wird. Kontroversen mit empörten fundamentalistischen Christen haben in den USA dazu geführt, dass in konservativen Staaten die Evolutionstheorie aus dem Lehrplan der Schulen gestrichen worden ist.Katrin Stern Köln

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Das Siegburger Gymnasium Alleestraße

Konflikte aushalten

Die Schulbuch-Autoren verdienen unseren großen Respekt und unsere Anerkennung! Sie haben sehr sachlich ein Problem zum Thema gemacht, das es offensichtlich wirklich gibt, bei dem Menschen tiefes Leid erfahren und über das immer einmal wieder in allen möglichen Medien berichtet wird. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der solche Themen in der Schule nicht mehr angesprochen werden dürfen, nur weil wir die Konflikte nicht mehr aushalten, die dabei auftreten können.Hans Junginger Leverkusen

Chance zum Dialog wahrnehmen

In jahrzehntelanger Beratungsarbeit an Schulen, in Zusammenarbeit mit schulpsychologischen Diensten und außerschulischen Unterstützungssystemen kann ich bestätigen, dass es in der Realität sehr wohl die in der Aufgabenstellung geschilderten Handlungsvollzüge gibt. Betroffene – in der Regel weibliche „Protagonistinnen“ – erfahren kulturell begründete elterliche Verfügungsgewalt, die Selbstbestimmungsrechte missachtet und tiefenpsychologische Traumata billigend in Kauf nimmt.

Die öffentliche Entschuldigung der Beschuldigten gegenüber den „Rassismusanklagenden“ ist ein positiver und bemerkenswerter Beitrag zum Dialog. Es stellt sich die Frage, wie Schulen und Lehrer im Fachunterricht kulturelle Fragestellungen aufgreifen können, ohne in die Ecke „Rassismus“ gestellt zu werden. Als Lerneffekt wäre es begrüßenswert, wenn die Kläger Herr Rechtsanwalt Zingal und Vertreter der „Föderation Türkischer Elternvereine“ in NRW zu realen Handlungen Aufgabenstellungen formulieren würden, die geeignet und förderlich für einen gemeinsamen Dialog sowie Lernprozess sind.

Der Hinweis von Staatssekretärin Türkeli-Dehnert: „Rassismus anzusprechen, ohne Rassismus zu reproduzieren, ist eine Herausforderung“ ist dabei sicher zielführend. Ob die abgedruckte Äußerung von Herrn Zingal: „Möchte nicht wissen, wie viele türkeistämmige Schüler von diesen Lehrkräften in der Vergangenheit benachteiligt worden sind“ diese Herausforderung besteht, müsste dann geklärt werden.Armin Wambach Köln

Schulbuch-Korrektur angebracht

Der Cornelsen-Verlag sollte das Schulbuch dahingehend verändern, dass er nicht die Türkei explizit benennt, sondern die Zwangsverheiratung auf islamische Kulturkreise bezieht. Leider ist es Realität, dass überall auf der Welt junge Mädchen und Frauen zwangsverheiratet werden – auch hier in Deutschland und auch in Kulturkreisen außerhalb des Islams.Andrea Köper Köln