„Zugespitzt und klischeehaft“Schulbuch-Aufgabe in Siegburg löst Eklat aus

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Das Gymnasium an der Siegburger Alleestraße

Siegburg/Köln – Für seine Philosophiestunde der Jahrgangsstufe 10 hatte sich der Lehrer vor etwa zwei Wochen ein besonders heikles Thema ausgesucht. Der Titel lautete: „Eine Ethik für alle Kulturen? - Problemeröffnung im Spannungsfeld zwischen Kulturrelativismus und Universalismus“. Anhand eines Bildes, zweier Texte und eines kurzen Filmclips sollten die Schülerinnen und Schüler des Siegburger Gymnasiums Alleestraße herausarbeiten, ob Traditionen aus verschiedenen Kulturen beurteilbar sind. Die Kursteilnehmer sollten auch diskutieren, welche Konflikte sie in folgendem Fall wohl sähen: „Ein türkischer Familienvater in Deutschland verheiratet seine Tochter ohne deren Einverständnis mit dem Sohn seines verstorbenen Bruders, um diesem eine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland und damit eine Existenz zu sichern.“ Der Vorfall am Siegburger Gymnasium Alleestraße hat für einige Aufregung gesorgt und inzwischen verschiedenste Gremien und sogar die Landesregierung beschäftigt. Auch für die Beamten und Experten ergab sich eine fast philosophische Fragestellung: Wurden hier unsensibel auf Kosten einer bestimmten Bevölkerungsgruppe Vorurteile geschürt? Und wenn ja, wieso tauchen solche stereotypen Darstellungen heutzutage noch immer in Schulbüchern auf?

Brief an Ministerin Gebauer

Den Fall öffentlich gemacht hatte der Solinger Anwalt Fatih Zingal. Früher war er stellvertretender Vorsitzender der Union Europäisch-Türkischer Demokraten, einer Lobby-Organisation der AKP, also der Regierungspartei des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. „Das ist wieder ein Beispiel dafür, dass auch unser Bildungssystem durchzogen ist von Ressentiments und latentem Rassismus“, schrieb Zingal und postete den Wortlaut der umstrittenen Aufgabe. „Möchte nicht wissen, wie viele türkeistämmige Schüler von diesen Lehrkräften in der Vergangenheit benachteiligt worden sind.“ In einem an NRW-Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP) gerichteten öffentlichen Brief warf die „Föderation Türkischer Elternvereine“ in Nordrhein-Westfalen (Fötev) der Siegburger Schule vor, mit der Aufgabe Vokabular rechtsradikaler Populisten übernommen zu haben. Viele türkischstämmige Eltern aus NRW und anderen Bundesländern seien fassungslos über „eine extrem vorurteilsbehaftete und klischeehafte Aufgabenstellung“. Die beschriebene türkische Familie würde nicht nur die Tochter ohne ihr Einverständnis verheiraten, sondern sich zudem auf illegale Weise gesellschaftliche Vorteile erschleichen. Sie seien also „Schmarotzer“.

In den sozialen Netzwerken ergoss sich Hass und Unverständnis zuhauf. „Die Schule, insbesondere die betroffene Lehrkraft, sind sehr erschrocken über diese massiven Anfeindungen und haltlosen Unterstellungen“, schreibt die Kölner Bezirksregierung. Die Angelegenheit sei bereits Thema im Siegburger Schulausschuss, wo der Bericht der Schulleiterin auf große Zustimmung gestoßen sei und parteiübergreifend zur Beruhigung beigetragen habe.

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Schulleiterin Sabine Trautwein bei der Präsentation einer besodneren Facharbeit eines Schülers.

Die Schule hat sich auf ihrer Internetseite entschuldigt. Die Schülerinnen und Schüler hätten sich bei der Aufgabe mit Vorurteilen und Stigmatisierung auseinandersetzen sollen. Dabei habe der Eindruck entstehen können, hier würden Stereotypen bewusst gegen eine Minderheit eingesetzt. Dies sei nicht der Fall. „Dennoch entschuldigen wir uns bei allen, die sich dadurch verletzt fühlen könnten. Selbstverständlich war das weder die Absicht der Schule noch eines einzelnen Lehrers.“

Auch die Behörden sind um Versöhnung bemüht. Die Schule engagiere sich seit fast 20 Jahren gegen Rassismus, betont die Bezirksregierung und verteidigt das Gymnasium. Es sei in der Aufgabe eben gerade nicht um Vorverurteilungen und das Schüren von Ressentiments gegangen, sondern, ganz im Gegenteil, „um die Entwicklung eines kultursensiblen eigenen Sach- und Werturteils im Horizont philosophischer Ansätze“.

Augenmerk auf interkulturelle Konflikte

Die im Unterricht gestellte Aufgabe entstammt einem Buch des Cornelsen-Verlags mit dem Titel „Zugänge zur Philosophie“. In dem Kapitel „Eine Ethik für alle Kulturen?“ soll das Augenmerk laut Eigenbeschreibung auf den Umgang mit interkulturellen Konflikten gelegt werden. Neben der Zwangsverheiratung durch einen türkischen Vater geht es hier auch um die Beschneidung von Mädchen im ländlichen Ägypten und einen Staat in Asien, der Drogendealer hinrichtet lässt, weil in der Tradition des Landes die Gemeinschaft Vorrang vor dem Einzelnen habe. Gemeint dürfte hier Indonesien sein.

Man greife bewusst unterschiedliche Lebenssituationen auf, „um den Jugendlichen Gelegenheit zu geben, immer wieder den eigenen Blick zu weiten und sich mit unterschiedlichen Sichtweisen auseinanderzusetzen“, schreibt der Verlag in einer Stellungnahme und will nicht unerwähnt lassen, dass die Zwangsheirat „übrigens ein reales Beispiel aus dem türkischen Bekanntenkreis des Autorenteams“ sei.

„Rassismus anzusprechen, ohne Rassismus zu reproduzieren, ist eine Herausforderung“

Riem Spielhaus vom Leibniz-Institut für Bildungsmedien in Braunschweig beschäftigt sich seit vielen Jahren insbesondere mit der Darstellung des Islam in deutschen Schulbüchern. Dabei falle ihr immer wieder ein Dilemma auf: „Wenn man Vorurteile behandeln will, riskiert man sogar, diese aufzurufen und bekannt zu machen.“ Auch die im aktuellen Fall geschilderten Beispiele seien „tendenziell dazu geeignet, Vorurteile zu verstärken“, sagt die Islamwissenschaftlerin. In der Darstellung habe man den größtmöglichen Kontrast zu vermeintlich hierzulande geltenden Normvorstellungen gesucht.

Dass es bislang von offizieller Stelle keine Beschwerden über das Buch gab, liegt wohl auch daran, dass die einzelnen Titel von den Behörden nicht überprüft werden. „Oberstufenlernmittel sind pauschal für den Einsatz im Unterricht zugelassen“, schreibt das Schulministerium auf Anfrage. Es sei Sache der Verlage darauf zu achten, dass Inhalte frei von jeglicher Form von Diskriminierung und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit seien. Die Debatte um die in Rede stehende Aufgabe hat das Ministerium nun zu einer klaren Bewertung veranlasst: Sie verstoße gegen das „Kriterium der Diskriminierungsfreiheit“.

Der Verlag hat Konsequenzen angekündigt. „Unsere Redaktion hat die Seite heute geprüft und ist der Ansicht, dass die Darstellung unnötig zugespitzt und klischeehaft ist.“ Zumindest die entsprechende Passage soll geändert werden. „Auch wenn die geschilderte Extremsituation geeignet ist, um ein Dilemma philosophisch zu diskutieren, werden wir es umgehend im Nachdruck gegen eine Neuformulierung austauschen.“

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Die Staatsekretärin für Integration des Landes NRW findet immerhin lobende Worte für die Debattenkultur in dieser sensiblen Sache. „Es ist zu begrüßen, dass hier diskutiert, reagiert und gehandelt wird“, sagte Gonca Türkeli-Dehnert. „Rassismus anzusprechen, ohne Rassismus zu reproduzieren, ist eine Herausforderung.“

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