Autobahnkirchen in NRWSeelentankstellen, wo auch die „Holy Riders“ Stammgäste sind

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Die evangelische Autobahnkirche Ruhr in Bochum empfiehlt sich.

Das T-Shirt spannt in der Bauchpartie, als der korpulente Mann eine angedeutete Kniebeuge macht und sich bekreuzigt. Der Aufdruck „Silent like Heaven“ wirkt wie für diesen ganz speziellen Ort gemacht, bezieht sich aber auf seinen besonders geräuscharmen 440-PS-Truck, den er auf dem großen Lkw-Parkplatz abgestellt hat. Janis ist zwischen Litauen und Benelux unterwegs und hat Möbel geladen. Es ist lange her, dass er eine Kirche betreten hat.

Janis erzählt, an dem unwirtlich wirkenden Autohof mit Spielhalle, Motel und vier Lkw-Waschanlagen habe er schon häufiger Rast gemacht,  aber bisher habe nie die Zeit gereicht, über die  Zugangsrampe zu gehen und einen Blick ins Innere des Gotteshauses zu wagen. Für Zufallsbesucher ist es ein gewisses Wagnis, sich für diesen spirituellen Ort zu entscheiden. Wenn man sich zur Einkehr entschließt und sich auf die Aufforderung „Beten hilft! Sprich doch gleich mit dem Höchsten“ einlässt, umfängt einen vor allem eines: Stille. Hörbare Stille. Sobald sich die schwere Glastür schließt, ebbt augenblicklich das ewige Verkehrsrauschen von der A 45 ab.

Behütet, heißt es, werde man auf allen Wegen

Neben dem überdachten Eingang ist ein Zitat aus Psalm 91 in chromglänzenden Lettern angebracht: „Er hat seinen Engeln befohlen, dich zu behüten auf allen deinen Wegen“.  Die Retro-Gestaltung sei von „Heckklappen-Typografie inspiriert“,  teilt die ausführende Design-Agentur mit.  Das Kircheninnere werde  „von einer rund anmutenden Kuppelkonstruktion aus Grob-Spanplatten dominiert“, schreibt der Journalist Ulli Tückmantel in seinem ebenso kenntnisreichen wie kuriosen „Autobahnkirchen-Buch fürs Handschuhfach.“ „Gott to go“ heißt der Führer, in dem Tückmantel, Pressesprecher der Bezirksregierung Münster, 18 der bundesweit 45 Tankstellen für die Seele vorstellt.

 Die Ausstattung der Kirche am südlichen Ende der Sauerlandlinie bestehe aus „billigstem Holz in edelster Schlichtheit“. Sie gilt als Star unter den Kirchen und Kapellen am Rand deutscher Fernverkehrsstraßen und hat schon mehrere Architekturpreise eingeheimst.  Der Andachtsraum gleiche einem Bienenstock, „der Geborgenheit und Wärme ausstrahlt“, befand das Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart an der Philipps-Universität Marburg. Diese Optik wird durch vertikal und horizontal ineinander gesetzte dünne, fast filigrane Balken erzeugt.

Anliegenbücher gehören zur Grundausstattung

Zur Grundausstattung jeder Autobahnkirche gehören neben einem schlichten Altar und einem Kreuz die „Anliegenbücher“, Kladden, in denen man persönliche, oft sehr private Bitten und Klagen, aber auch Dank, etwa für eine überstandene schwere Krankheit oder eine geglückte Prüfung, vermerken kann. In Wilnsdorf liegen diese Hefte, eine Art moderne Votivtafeln,  wie sie früher in Wallfahrtsorten aufgehängt wurden, auf Stehpulten aus. Eine aufschlussreiche Lektüre für Religionssoziologen, denn trotz dramatischer Kirchenaustrittszahlen scheint es um die persönliche Frömmigkeit nicht so schlecht bestellt zu sein, wie zu vermuten wäre.

„Guter heiliger Gott“, ist da in krakeliger Schrift zu lesen, „danke für deine Treue, Gnade, Barmherzigkeit und Liebe.“  Ein paar Seiten weiter: „Lieber Gott, behüte und beschütze meine ganze Familie, alle Zwei- und Vierbeiner. Diana.“ Ein Karsten hat notiert: „Danke für die Möglichkeit, hier bei dir zu sein. Draußen lädt mein Tesla auf, ich kann es hier bei dir.“

Verzweiflung und Anklage von anonymem Absender

Darunter ein anonymer Eintrag, Verzweiflung und Anklage. „Bin heute zum ersten Mal allein hier. Mein Mann verstarb im Oktober. Er wurde vom Krankenhaus in die Geriatrie verlegt. Dort sagten sie, er ist halbtot, wir geben ihm Morphium. Von seinem Sterben wurde ich nicht unterrichtet. Ich habe die Klinik verklagt. Bitte lieber Heiland, gib mir die Kraft, die Verhandlung durchzukämpfen und die Wahrheit zu erfahren.“ Beinahe kindliches Vertrauen neben tiefen Zweifeln an einem gütigen und gerechten Gott. „Bitte lass meinen Vater mich so akzeptieren, wie ich bin. Pass auf alle auf, die ich liebe, wenn du weißt, was Liebe ist. Ach, und sei mal etwas netter zu uns.“ Kerstin D.

„Lieber Gott, hilf uns, dass die Welt wieder so sein wird, wie du sie erschaffen hast. Ohne Leid, Hunger, Krieg, Elend, Tierquälerei, Kindesmissbrauch.“ Naiv oder tiefgläubig? Eine Anne aus Düsseldorf schreibt sich ihren Ärger mit ein paar Zeilen von Reinhard Mey aus seinem Song „Sei wachsam“ von der Seele: „Der Minister nimmt flüsternd den Bischof beim Arm. Halt‘ du sie dumm, ich halt‘ sie arm!“ Wie recht er doch gehabt habe, 1996, als er das Lied schrieb.

Janis, der litauische Fernfahrer, nimmt sich eine kostenlose „Trucker-Bibel“ mit, auf Russisch.

Stammbesucher von den „Holy Riders“

Es gibt auch Stammbesucher. Tags zuvor erst hat eine Gruppe der „Holy Riders“ wieder mit ihren Harleys Station gemacht. Sie nennen sich „christlich orientierte Biker“ und verstehen sich als Glaubensboten in einer wenig christlich geprägten Community. Für ihre Mission werden sie gern belächelt:  „Jesus ist unser Road Captain und die Bibel unser Navi“.

Wir sind auf der A 5 von Karlsruhe Richtung Basel unterwegs. Nicht nur im Sommer eine viel frequentierte Urlaubsroute. Am Rasthof Baden-Baden führt kein Weg vorbei. Preisbewusste Autofahrer machen gerade jetzt einen Bogen um sündhaft teure Autobahn-Tankstellen. Das halte Menschen, die unterwegs „ein bisschen spirituell auftanken wollen“, aber nicht davon ab, „bei uns eine Pause zu machen“, sagt Norbert Kasper. Er ist Pastoralreferent und ausgebildeter Meditationslehrer und betreut die auf dem Raststätten-Gelände  gelegene Autobahnkirche St. Christophorus. Das in den Jahren 1976 bis 1978 gebaute katholische Gotteshaus ist einer der Klassiker unter den „Gott to go“-Angeboten.

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Es bricht mehrere Rekorde, sagt Autor Tückmantel. „Baden-Baden ist nicht nur die größte eigens für die Autobahn-Seelsorge errichtete Kirchenanlage, sondern auch die mit den geschätzt etwa 300.000 Besuchern im Jahr am intensivsten genutzte. Konkurrenzlos ist auch ihr Bildprogramm mit mehr als 2000 biblischen Motiven, die sich den überwiegend flüchtigen Besuchern allerdings ebenso wie die Bilderwelt der eigenwillig-kunstvoll gestalteten Außenanlagen nicht leicht erschließen. Das mindert aber nicht ihren Reiz, und es gehe nicht um fertige Antworten, findet Theologe Kasper. Fragen und individuelle Interpretationen seien ausdrücklich erwünscht. Immer wieder ist der pyramidenförmige Bau mit seinen auf viele Besucher rätselhaft wirkenden Außenanlagen mit einem Inka-Tempel verglichen worden. Busgruppen, Biker, Fernfahrer, Familien auf dem Weg in den Schwarzwald-Urlaub, aber auch Leute aus der Region – sie alle fühlen sich irgendwie angezogen von St. Christophorus, einem teuren pastoralen Prestigeprojekt des Erzbistums Freiburg. Viele wollen sich nur ein paar Minuten die Beine vertreten, andere nehmen sich mehr Zeit, und lassen sich von der wohltuenden Ruhe im Inneren der Pyramide zu einer „Zwiesprache mit Gott“ animieren. Weniger anspruchsvoll zu einem stillen Gebet.

Bunte Glaswände beeindrucken

Auch wer wenig Bezug zum christlichen Glauben hat oder nicht konfessionell gebunden ist,  kann sich der Atmosphäre kaum entziehen. Erzeugt wird sie vor allem durch die bunten Glaswände des Betonbaus. Vermutlich nicht allzu viele Besucher werden der komplizierten Deutung des Künstlers Emil Wachter („exemplarische Szenen aus dem Leben Jesu erscheinen im Wechsel mit Szenen der Apokalypse“) folgen können. „Macht nichts“, sagt Norbert Kasper, „vielleicht haben wir nur das Staunen verlernt.“

Das erlebt er immer wieder, wenn Leute die Reliefs an den wuchtigen Beton-Türmen betrachten. Sie stehen am Eingang zu den schnurgeraden Ahorn-Alleen, die vom Parkplatz auf die Kirche zuführen. Sie sollen Moses, Noah, Elia und Johannes den Täufer darstellen. Was die Gäste auf Zeit offenkundig nicht verlernt hätten, sei, so altmodisch sich das vielleicht anhöre: Ehrfurcht. Kaum Schmierereien oder Beleidigungen in den Fürbittbüchern, keine Störungen der Stille oder provokative Auftritte bei der Sonntagsmesse um elf, keine Verschandelung des parkartigen Geländes. Gerade Biker respektierten die ungeschriebenen Regeln im Haus Gottes besonders strikt. Helm ab zum Gebet.

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