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Unglück in Schweizer Alpen„Alles verloren“ – Nach Gletscherabbruch droht Flutwelle

Lesezeit 4 Minuten
«Es sieht aus wie auf dem Mond», sagt ein Anwohner

„Es sieht aus wie auf dem Mond“, sagt ein Anwohner

Die Bewohner des Schweizer Lötschentals schauen fassungslos auf eine gigantische meterhohe Fels- und Eiswüste. Nun droht die nächste Katastrophe.

Nach dem gigantischen Gletscherabbruch im Lötschental im Schweizer Kanton Wallis droht nun eine weitere Katastrophe. Ein meterhoher Damm aus Geröll, Fels und Eis verhindert den Abfluss des Flüsschens Lonza. Dahinter stauen sich bereits immense Wassermassen.

Wenn das Wasser durchbricht, droht weiter unten im Tal eine Flutwelle oder ein Murgang, also eine Gerölllawine, wenn das Wasser dann Teile des Damms ins Tal reißt. In zwei Weilern wurden bereits mehrere Häuser vorsichtshalber geräumt. Auf Drohnenbildern ist zu sehen, dass ein Großteil von Blatten unter einer meterhohen Schuttschicht liegt, die wenigen verschonten Häuser sind von der Lonza überflutet. 

„Die Leute haben alles verloren“

Der Abgeordnete Beat Rieder aus dem Nachbarweiler Wiler sprach im Schweizer Fernsehen von einer Jahrhundertkatastrophe. „Es ist ein Ereignis, das das Tal seit Beginn der Geschichtsschreibung nie erlebt hat“, sagte er. „Die Leute haben alles verloren, was man sein ganzes Leben aufgebaut hat.“

Betroffen ist auch der Weiler Ried nur einen Kilometer vor Blatten. Anwohner Daniel Ritler sagte dem Portal „20 Minuten“: „In ein paar Sekunden war die ganze Heimat kaputt.“ Hof und Haus habe er auf Bildern nicht mehr gefunden. „Es sah so aus wie auf dem Mond.“ „Ein Tal weint“, schrieb die Online-Plattform des lokalen Medienhauses Pomona. 

Das Dorf Kippel wurde verschont, dahinter ist die Wüste aus Eis, Schlamm und Fels zu sehen.

Das Dorf Kippel wurde verschont, dahinter ist die Wüste aus Eis, Schlamm und Fels zu sehen.

Sorge vor Dammbruch

„Das Schlimmste wäre, dass sich Wasser aufstaut bis zur Krone des Bergsturzdammes“, sagte der Geologe Flavio Anselmetti von der Universität Bern dem Schweizer Radiosender SRF. Der Fluss könne sich dann in das Gestein-Eis-Gemisch einschneiden, der Damm instabil werden und brechen.

„Dann könnten sehr starke Flutwellen oder Murgänge von diesem Seeausbruch für die Gemeinden, die im unteren Tal liegen, drohen.“ Die Armee ist bereits mobilisiert. Mit Drohnen und Hubschrauberüberflügen wird die Lage stündlich beurteilt. 

Räumtrupps und Armee können zurzeit nichts tun, wie der Kanton Wallis mitteilte. Die Lage sei zu gefährlich. Am Berg Kleines Nesthorn drohten weitere Hunderttausende Kubikmeter Fels abzustürzen. Jederzeit könnten sich Gerölllawinen lösen, und auch der Schuttkegel sei zu instabil und könne nicht betreten werden. „Dies macht zum jetzigen Zeitpunkt jegliche Intervention im Katastrophengebiet unmöglich“, so der Kanton. 

Klimawandel Grund für die Katastrophe?

Ein einzelnes Ereignis direkt auf den Klimawandel zurückzuführen, ist schwierig, sagt Jan Beutel, Professor der Universität Innsbruck. Er untersucht seit Jahren den Zustand von Felsen und Permafrost und Klimaeinflüsse. Dennoch: „Die starken Veränderungen, die wir heute im Hochgebirge erleben, sind zum großen Teil die Folge des Klimawandels der vergangenen Jahrzehnte“, sagt er laut Mitteilung der Universität Innsbruck. „Zu einem gewissen Teil ist die Reise für die nächsten Jahre gebucht – eingeheizt ist schon, und das Tauen und Schmelzen wird unweigerlich weitergehen.“

Durch Gletscherschmelze und schnelles Tauen von Schnee könnten Wasser und Wind das Gestein erodieren. Der Permafrost - die gefrorene Gesteinsschicht - werde immer wärmer, die Schicht, die bei Sommertemperaturen auftaue, immer tiefer. „Auftauen bedeutet aber auch, dass mehr flüssiges Wasser zur Verfügung steht – auch im Inneren des Berges – und das schmiert und fördert die Beweglichkeit, getrieben von der Gravitation“, sagte Beutel.

Schuttschicht bis zu 200 Meter dick

Die rund 300 Einwohner des Dorfes Blatten haben alles verloren. 90 Prozent des Dorfes, rund 130 Häuser sowie die Kirche, sind unter einer Schuttschicht begraben. Sie sei zwischen 50 und 200 Metern dick, sagte Naturgefahrenchef Raphaël Mayoraz. Der Kegel ist zwei Kilometer lang und rund 200 Meter breit. Insgesamt donnerten nach Schätzungen drei Millionen Kubikmeter Fels, Geröll und Eis des Birchgletschers ins Tal. Blatten ist das letzte Dorf im 27 Kilometer langen Lötschental. Es liegt auf rund 1500 Metern.

Als die Welt noch in Ordnung war: Blatten vor dem gigantischen Gletscherabbruch.

Als die Welt noch in Ordnung war: Blatten vor dem gigantischen Gletscherabbruch.

Die gute Schweizer Überwachung der Gebirge hatte schon Mitte Mai zu Warnungen geführt, dass oberhalb des Dorfes ein Bergsturz droht. Als die Spalten im Fels schnell wuchsen, kam am 19. Mai aber doch recht plötzlich der Aufruf, das Dorf innerhalb einer Stunde zu verlassen. Viele haben in Kürze das Nötigste zusammengepackt und sind abgefahren.

Einwohner glaubten an glimpflichen Ausgang

Über Tage bröckelte der Fels und Brocken donnerten ins Tal, aber nichts davon erreichte Blatten. Bei der Evakuierung machten viele deutlich, dass sie die Vorsichtsmaßnahmen zwar schätzten, aber dennoch damit rechneten, dass das Dorf glimpflich davonkommt - wie bei ähnlichen Lagen in anderen Bergregionen. 

Im Lötschental ist aber das schlimmste erdenkliche Szenario Wirklichkeit geworden. Der Abgeordnete Rieder sagte: „Man blickt auf den Bildschirm und kann nichts machen, das ist ein schwerer Schock.“

64-Jähriger vermisst

Seit die gewaltige Eis- und Gerölllawine am Mittwochnachmittag mit ohrenbetäubendem Lärm und einer riesigen Staubwolke, die an eine Explosion erinnerte, ins Tal stürzte und Teile von Blatten verschüttete, stehen die Bewohner unter Schutz und werden betreut. Mitglieder des Gemeinderats reagieren erschüttert. Ein 64-jähriger Einheimischer, der sich trotz der Evakuierung im Gefahrenbereich aufhielt, wird vermisst.

Das Lötschental gilt als seit Jahrzehnten als Urlaubsparadies: Im Sommer lockt es mit Wander- und Kletterwegen, klaren Bergseen und ursprünglicher Natur – teils mit Aussicht auf bis zu 40 Viertausender. Im Winter verwandelt sich das Tal in ein Skigebiet mit langen Abfahrten. Bis zur Eröffnung des Lötschbergtunnels im Jahr 1913 und dem Straßenbau in den 1950er Jahren war es jedoch nur schwer zugänglich. (jag/dpa)