Meistgelesen 2022Warum das versteckte Kind in Attendorn jahrelang unentdeckt blieb

Lesezeit 9 Minuten
Blick auf das Haus im sauerländischen Attendorn, in dem ein achtjähriges Mädchen fast sein gesamtes Leben lang  festgehalten worden sein soll.

Wie konnte es der Mutter gelingen, ihr Kind jahrelang in diesem Haus in Attendorn versteckt zu halten?

Im Fall des jahrelang im Haus der Mutter versteckten Mädchen aus Attendorn, wird das zuständige Jugendamt stark kritisiert. Mittlerweile wird klar: Das Versagen fand mutmaßlich auf vielen Ebenen statt. Dieser Text ist zuerst am 11. November erschienen.

Die Bestürzung ist Michael Färber noch immer anzuhören. Seit fünf Tagen gibt der Leiter des Jugendamts in Olpe Auskunft darüber, wie es möglich war, dass eine Mutter ihre inzwischen acht Jahre alte Tochter fast ihr ganzes Leben lang im Haus der Großeltern im sauerländischen Attendorn versteckt halten konnte, abgeschottet von der Außenwelt, ohne jeden Kontakt zu Gleichaltrigen. „Die Dimension dieses Falls ist schwer zu begreifen“, sagt Färber. „Ich hätte so etwas nie für möglich gehalten.“

Mit seiner Behörde steht Färber gerade im Feuer der Öffentlichkeit. Um aufzuklären, ob sich das Jugendamt in der Sache etwas zuschulden kommen ließ, hat er eine interne Ermittlung angestoßen. Es stellen sich drängende Fragen: Gab es nicht schon viel früher einen Zeitpunkt, an dem der ganze Schwindel hätte auffliegen müssen? An dem man das Kind aus seiner sozialen Isolation hätte befreit werden können? „Auch diese Frage stellen wir uns gerade natürlich“, sagt Färber. „Und wir tun das sehr selbstkritisch.“

Was wusste der Vater, was die Verwandten?

In dieser schier unglaublichen Geschichte, die für ein Kind ein jahrelanges Martyrium bedeutet, das Jugendamt zu einem Hauptschuldigen zu erklären, wäre vermutlich zu kurz gedacht. Das Versagen fand mutmaßlich auf vielen Ebenen statt: Bei Mutter und Großeltern, gegen die wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen und Freiheitsberaubung ermittelt wird, beim Jugendamt, beim Vater, der Verwandtschaft, beim Familiengericht und vielleicht sogar bei der Polizei. Es sei noch sehr vieles offen, sagt die Staatsanwaltschaft. Man werde sehen müssen, was die Ermittlungen ergeben.

Angefangen hat diese Geschichte im Jahr 2015. Die Beziehung der Eltern der kleinen Lisa (Name geändert), damals anderthalb Jahre alt, lief offenbar nicht sonderlich gut. Die beiden lebten getrennt, dann eskalierte die Lage. Nach Erkenntnissen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat die Mutter dem Kindsvater (heute beide 46)  den Umgang mit der gemeinsamen Tochter verwehrt. Der Vater nahm sich einen Anwalt und wollte die Angelegenheit vor Gericht klären lassen. Die Mutter wiederum meldete sich im Zuge des Verfahrens am 15. Juni 2015 beim Einwohnermeldeamt in Attendorn ab und hinterlegte eine Adresse in Italien, wo sie mit der Tochter angeblich ein neues Leben habe beginnen wollen.

Mutter soll weiter in Attendorn gesehen worden sein

Dem Anwalt des Vaters war das offenbar schon damals komisch vorgekommen. Er soll dem Gericht eine Mitteilung gemacht haben, dass die Mutter auch nach dem mutmaßlichen Umzug in Attendorn gesehen worden sei und brachte damit erstmals den Verdacht auf, die Sache mit Italien könnte eine Finte sein. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft soll es anschließend einen ersten Ortstermin beim Haus der Großeltern gegeben haben. Die zwei Jugendamtsmitarbeitenden redeten mit der Oma. Kind und Mutter seien nicht hier, wurde ihnen versichert. Sondern in Italien.

Um im Auftrag des Gerichts seine elterliche Eignung zu überprüfen, besuchte das Jugendamt kurz darauf im November 2015 den Vater in seiner Wohnung. Dort habe er auf die Mitarbeitenden einen vernünftigen Eindruck gemacht, sagt Färber. Die Behörde schickte eine schriftliche Empfehlung an das Gericht, das Sorgerecht weiterhin geteilt zu belassen. Dem folgte das Amtsgericht in Olpe mit einem schriftlichen Beschluss vom 3. Februar 2016. Die Entscheidung wurde beiden Elternteilen schriftlich mitgeteilt, ein Brief wurde an die Mutter nach Italien geschickt, wo dieser, so gibt die Staatsanwaltschaft in Olpe auf Anfrage bekannt, offenbar auch zugestellt wurde. Danach passiert nach bisherigem Erkenntnisstand fast fünf Jahre lang nichts mehr.

Wie hätte der Vater das Umgangsrecht wahrnehmen sollen?

Bereits an dieser Stelle wird der Fall rätselhaft. Obwohl alle Beteiligten wussten, dass Mutter und Tochter angeblich ein Leben fernab des Sauerlands führten, wollte sich so keiner wirklich mit der Frage beschäftigen, wie sich der zur Hälfte sorgeberechtigte Vater unter diesen Umständen eigentlich um sein Kind kümmern soll. Im Beschluss des Familiengerichts hat die Frage nach dem Umgang dem Vernehmen nach keine Rolle gespielt. Aus einem Aktenvermerk des Jugendamts geht hervor, dass der Anwalt dem Vater empfohlen habe, sich beim Internationalen Sozialdienst zu melden. Die könnten in solchen Angelegenheiten helfen. Ob er das je getan hat, ist derzeit noch unklar. In seiner Vernehmung bei der Polizei hat er dazu nicht ausgesagt.

Fest steht jedenfalls, dass der Vater zum Jugendamt anscheinend keinen Kontakt mehr gesucht hatte. Wieso aber, nachdem er doch den Umgang zu seinem Kind sogar erfolgreich vor Gericht erstritten hatte? Er habe resigniert und wohl auch keine Hoffnung mehr gehabt, im fernen Italien Kontakt zu seinem Kind zu bekommen, habe er zu Protokoll gegeben. Geschenke, die er an die italienische Adresse geschickt habe, seien postwendend zurückgekommen. Er habe das als unmissverständliche Botschaft verstanden: Lass' uns in Ruhe. Unterhalt musste der Vater nicht zahlen, die Mutter hatte nach Auskunft der Ermittler Verzicht erklärt.

Fünf Jahre lang hören die Behörden nichts von der Familie, fünf Jahre lang lebt Lisa in einem Haus mit drei Erwachsenen, ohne Kontakt zu anderen Kindern, Fenster sind ihr einziger Blick in eine Welt, die sie nicht betreten darf. In der es Frühling wird, Sommer, Herbst, Winter. Jahr für Jahr. Eine Welt, die sich stetig ändert, für Lisa aber immer dieselbe bleibt.

Ein anonymer Brief geht beim Jugendamt ein

Am 1. Oktober 2020 kommt plötzlich wieder Bewegung in den Fall. Ein anonymer Brief geht beim Jugendamt ein, die Buchstaben wie im Krimi aus Zeitungen ausgeschnitten und aneinandergefügt. Drin steht, dass Kind und Mutter nicht in Italien, sondern bei den Großeltern in Attendorn wohnen würden. Und: Kind kommt nicht vor die Tür, keine Arztbesuche, sozial isoliert. Ein paar Wochen später, am 12. November, folgt ein weiteres Schreiben, ebenfalls anonym, anderes Format, ähnlicher Inhalt.

Schon nach dem ersten Brief ist das Jugendamt alarmiert und schaut erneut bei den Großeltern vorbei. Das Ergebnis ist dasselbe wie beim ersten Mal vor fünf Jahren. Ein Gespräch im Haus lehnen die Großeltern ab, die Oma erklärt am Türspalt, dass Mutter und Kind nach wie vor in Italien wohnten. Aber das sei ja längst alles bekannt. Diesmal aber überprüfte das Jugendamt zusätzlich die Krankenkasse von Mutter und Kind. Beiträge wurden bezahlt, Leistungen aber nie in Anspruch genommen. Sie fragen bei Kinderärzten aus der Region nach. Die schütteln beim Namen des Kindes den Kopf. Nie hier gewesen. Für das Amt ein Indiz, dass das die beiden nicht in Deutschland sein können. Wieder wird der Fall zu den Akten gelegt.

Ein weiteres Jahr passiert nichts. Ein weiteres Jahr, in dem Lisa die Welt draußen nicht entdecken darf, festgehalten wird in einem Haus, in dem mehr Wert auf etwas Bildung, aber nicht auf den Seelenzustand des Kindes gelegt wird. Lisa lernt Lesen, Schreiben, Rechnen. Wie man mit anderen Kindern Spaß hat, schaukelt, rutscht, Ball spielt lernt es nicht.

Polizei lehnt Durchsuchung trotz anonymen Hinweises ab

Am 13. Oktober 2021 geht erneut ein anonymer Hinweis ein, diesmal telefonisch im Rathaus von Attendorn, Außenstelle Jugendamt Olpe. Die Stimme erhebt dieselben Vorwürfe wie der Briefschreiber. Beim Jugendamt wird der Anruf als „Kindeswohlgefährdungsmeldung“ geführt. Wieder geht das Jugendamt zum Haus der Großmutter, wieder bekommen sie dieselbe Antwort. Die Mitarbeitenden schreiben den Vater an, wollen von ihm wissen, ob er Informationen über den Verbleib des Mädchens hat. Doch der habe laut Behörde darauf nie geantwortet.

Diesmal schaltet das Jugendamt auch die Polizei ein. Ob ein richterlicher Durchsuchungsbeschluss in dieser Sache zu erwirken sei, fragt das Amt. Die Polizei winkt ab. Laut eines Erinnerungsvermerks eines Beamten habe man dem Jugendamt mitgeteilt, dass ein ominöser anonymer Hinweis keine Grundlage sei. Gefahr in Verzug sei ebenfalls nicht zu erkennen. Das zusammen reiche nicht aus, um einen solchen Beschluss zu erwirken. Zumal die rechtlichen Hürden hoch liegen.

Ob man denn nicht mehr Erkenntnisse in dieser Sache beibringen könne? Man wolle das versuchen und sich dann wieder melden, habe das Jugendamt geantwortet. Danach habe man von der Behörde aber nichts mehr gehört, weshalb die Polizei davon ausgegangen sei, dass sich die Angelegenheit geklärt haben müsse.

Die Frage, ob das Jugendamt längst hätte entschiedener durchgreifen müssen, ist Gegenstand der Ermittlungen. Die rechtliche Lage ist klar. „Das Jugendamt ist verpflichtet, sich bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind und seiner persönlichen Umgebung zu verschaffen“, sagt Lucie Tonn vom Kinderschutzbund NRW.

Ist eine geistige, seelische oder körperliche Gefährdung eines Kindes nicht abzuwenden, ist das Jugendamt berechtigt, die Polizei einzuschalten. Das treffe auch zu, wenn einem Kind die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben verweigert werde, sagt Tonn. „Auch das ist eine Form von Gewalt.“ Doch hätte das Jugendamt wirklich noch mehr tun können oder müssen?

Der Oktober 2021 sei ein sehr kritischer Punkt gewesen, sagt Jugendamtsleiter Färber. „Wir fragen uns, ob wir nicht schon zu diesem Zeitpunkt ein Amtshilfeersuchen hätten stellen müssen, um zu klären, ob sich Mutter und Kind wirklich in Italien aufhalten. Das beschäftigt uns sehr.“ Was er nicht versteht: Warum wollte sich der anonyme Hinweisgeber nicht zu erkennen geben? Hätte er dadurch womöglich dafür sorgen können, dass das Mädchen schon viel früher hätte befreit werden können? Die Staatsanwaltschaft hat ihn inzwischen als einen Verwandten des Vaters identifiziert.

Wieder bleibt es für einige Monate still, ein halbes Jahr lang. Bis am 1. Juli 2022 gleich zwei Anrufe eingehen, der erste anonym, beim zweiten meldet sich erstmals ein Ehepaar mit Klarnamen und Adresse. Mit der Familie hätten sie nichts zu tun, sie würden nur einen Hinweis weitergeben wollen: Lisa und ihre Mutter seien in Attendorn.

Im Juli 2022 zeigt das Jugendamt Entschlossenheit

Diesmal zeigt das Jugendamt Entschlossenheit. Am 14. Juli stellt es beim für solche Dinge zuständigen Bundesjustizministerium ein Amtshilfeersuchen. Dieses schickt nach Ermittlungen der italienischen Behörden am 12. September dann die Bestätigung dessen, worauf das Amt seit fast zwei Jahren hingewiesen wurde: Mutter und Kind lebten nie in Italien. Einen Tag später spricht das Jugendamt mit der Polizei, am 22. September ergeht eine Gefährdungsmitteilung an das Familiengericht. Das entzieht tags drauf Mutter und Vater teilweise das Sorgerecht und überträgt es auf das Jugendamt. Am selben Tag wird das Kind aus dem Haus der Großeltern geholt, muss dabei gestützt werden, weil sein Körper für ein Leben in Freiheit nicht vorbereitet ist.

Lisa wohnt nun an einem geheimen Ort bei einer „professionellen Pflegefamilie“, wie Färber sagt, also bei Personen mit pädagogischer Fachausbildung, unterstützt von einer Ergänzungspflegerin des Jugendamts. Dem Mädchen gehe es den Umständen entsprechend gut. Es erhalte psychologische Unterstützung und werde ärztlich betreut. Auch sämtliche Impfungen müssten nun nachgeholt werden. Ob überhaupt und wann Lisa Mutter und Großeltern, fast acht Jahre lang ihre einzigen Bezugspersonen, wiedersehen darf, ist unklar. „Ob ein begleiteter Umgang sinnvoll sein kann, wird auf der Grundlage der Ergebnisse der anstehenden psychologischen Untersuchungen und Begutachtungen durch das Familiengericht entschieden“, sagt Färber. „Wichtig ist, dass wir darauf hören, was das Kind möchte.“

Wie lange Lisa bei der Pflegefamilie bleibt, werden wohl Gerichte entscheiden. Im Dezember wird sie neun Jahre alt. In seiner Vernehmung soll der Vater den Willen geäußert haben, das Sorgerecht für seine Tochter wieder erlangen zu wollen.

KStA abonnieren