Fall in AttendornFast das ganze Leben isoliert von der Welt – was macht das mit einem Kind?

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Blick auf ein weißes Haus hinter Buschwerk, in dem ein acht Jahre altes Mädchen fast ihr ganzes Leben lang festgehalten wurde.

In diesem Haus wurde ein Mädchen von seiner Mutter jahrelang versteckt gehalten.

Kinder- und Jugendpsychiater Stephan Bender spricht mit uns darüber, welche verheerenden Auswirkungen soziale Isolation von Kindern, wie in dem Fall in Attendorn, haben können.

Herr Professor Bender, im sauerländischen Attendorn wurde ein inzwischen acht Jahre altes Mädchen offenbar nahezu sein ganzes Leben lang von der Mutter und den Großeltern in einer Wohnung festgehalten, sozial isoliert, ohne Kontakt zur Außenwelt. Was genau macht so etwas mit einem Kind?

Stephan Bender: Eine Psyche entwickelt sich in der Interaktion mit der Umwelt. In den ersten zwei Lebensjahren geht es hauptsächlich um Entwicklung von Motorik und Spracherwerb. Das funktioniert noch vor allem über die Eltern. Dann aber kommen auch schon die Gleichaltrigen ins Spiel, mit denen sich wichtige soziale Funktionen entwickeln: Wie setze ich mich durch, wie halte ich mich an Regeln, wie erkenne ich, wer ich bin in dieser Welt?

Gerade bei Einzelkindern ist daher das Besuchen einer Kita und anschließend der Schule von großer Bedeutung. Bleibt das aus, können verschiedene Störungen entstehen, etwa Mutismus, also ein psychogenes Schweigen, aber auch Angststörungen. Es ist wichtig zu schauen, wie die sozialen Verhältnisse in dieser Wohnung wirklich waren.

Prof. Stephan Bender leitet die Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Köln.

Stephan Bender, 47 Jahre, ist Kinder- und Jugendpsychiater und seit 2015 Direktor an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Uniklinik Köln.

Immerhin kann das Mädchen nach Angaben der Behörden schreiben, lesen und rechnen, obwohl es weder Kita noch Schule besucht hat. Allerdings hat es dem Vernehmen nach motorische Probleme, etwa beim Treppensteigen. Wie schnell lassen sich diese Dinge aufholen?

Wenn ihr selbst Treppensteigen Schwierigkeiten bereitet, ist das ein alarmierendes Zeichen. Wenn Muskeln nicht trainiert werden, kann das auch Auswirkungen auf den knöchernen Bewegungsapparat haben. Das man nun behutsam wieder aufbauen. Ein gutes Zeichen hingegen ist, wenn das Mädchen lesen und schreiben kann. Dann scheint es in der Familie zumindest eine entsprechende Interaktion und auch eine Art Regelwerk gegeben zu haben.

Auf der sozialen Ebene kann in einer gut integrierenden Klasse vieles schnell aufgeholt werden.
Stephan Bender

Man muss den Schulstart jetzt gut begleiten, idealerweise in einer Klasse, die gut integrieren kann und nicht ausgrenzt. Wenn das gelingt, kann auf der sozialen Ebene vieles schnell wieder aufgeholt werden. Dabei wäre es sicher von Vorteil, wenn ihr in der Wohnung auch Medien wie Fernsehen oder Handy zur Verfügung gestanden hätten.

Was können die in einem solchen Fall bewirken?

Über Fernsehen oder Handy hat das Kind womöglich einiges erfahren können über die Welt da draußen, konnte sich eine Vorstellung davon machen, was es so alles gibt. In diesem Fall wäre es zumindest etwas leichter, sie jetzt an die neue Umgebung, an die gewonnene Freiheit zu gewöhnen. Wenn sie aber tatsächlich nur die eigenen vier Wände kannte, ist das ungleich dramatischer. Im schlimmsten Fall könnte das Einprasseln dieser vielen neuen Dinge Angst verursachen.

Das Verbot rauszugehen, könnte zu starken Gefühlen von Ohnmacht führen, die Selbstwirksamkeit könnte sich nicht entfalten
Stephan Bender

Was in diesem Fall ja besonders erschüttert, ist die Vorstellung, dass das Mädchen zum Beispiel durch ein Fenster sehen konnte, dass eine Außenwelt existiert, diese im Gegensatz zu den Erwachsenen aber nicht betreten durfte. Dafür muss man dem Kind ja eine Erklärung liefern.

Das hängt stark davon ab, wie sehr der Wunsch, diese Welt zu entdecken, in dem Kind ausgeprägt war. Schwierig wird es dann, wenn sie herauswollte, aber es ihr andauernd verboten wurde. Das würde zu starken Gefühlen von Ohnmacht führen, die Selbstwirksamkeit könnte sich nicht entfalten.

Aber es gibt auch eine andere Möglichkeit. Wenn ein Kind etwas nie kennengelernt hat, zum Beispiel jene Außenwelt, kann das durchaus als normal empfunden werden. Es denkt dann: Das ist eben so. Die Erwachsenen, denen ich ja vertraue, haben mir das so erklärt. Die Großen dürfen raus, ich aber eben nicht. Dadurch könnte verhindert worden sein, dass der Drang danach, die Welt zu entdecken, erst gar nicht entstanden ist.

Dramatischer Vertrauensverlust denkbar

Was macht das mit dem Verhältnis zwischen Kind und Mutter oder Großeltern, wenn das Mädchen jetzt erkennt, dass man ihm jahrelang die Freiheit vorenthalten hat?

Das führt natürlich zu einem dramatischen Vertrauensverlust. Schließlich waren die drei offenbar all die Jahre die einzigen Bezugspersonen.

Und diese hat sie nun nicht mehr. Das Mädchen ist inzwischen bei einer Pflegefamilie untergebracht.

Das ist ein dramatischer Schritt. Kinder sind da sehr ambivalent. Selbst bei einem Missbrauchshintergrund in der Familie entwickelt sich eine enge Bindung zum Täter. Da spielen auch Stoffe wie das Bindungshormon Oxytocin eine wichtige Rolle. So ein Wechsel in eine andere, völlig fremde Familie ist besonders schwierig, wenn er so abrupt erfolgt. Es wäre einfacher, wenn schon vorher von Seiten des Kindes eine Abgrenzung da war, so dass es diesen Schritt als Befreiung empfinden kann.

Veränderungen sollen wohl dosiert erfolgen und nicht übers Knie gebrochen werden.
Stephan Bender

In jedem Fall ist es dringend erforderlich, dass psychotherapeutisch aktiv mit dem Kind gearbeitet wird. Das geht bis hin zu der Frage, ob das Kind in einer womöglich dosierten Form weiter Umgang mit seinen vorigen Bezugspersonen haben sollte. Wenn ja, dann sollte das einen beruhigenden Effekt haben und nicht Dinge wieder aufwühlen. Man müsste dann auch aufpassen, dass diese drei Personen nicht versuchen, das Kind zu beeinflussen und weiter an ihm zu ziehen. Es sollte aber auf keinen Fall passieren, dass nun erneut nicht auf die Wünsche und Bedürfnisse des Kindes eingegangen wird und es erneut das Gefühl bekommt, die Erwachsenen machen wieder was sie wollen und nehmen mir alles Vertraute auf einmal weg, ohne mich zu fragen. Veränderungen sollen wohl dosiert erfolgen und nicht übers Knie gebrochen werden. Eine gewisse Autonomie sollte dem Kind gewährt werden.

Ist die Unterbringung bei einer Pflegefamilie die richtige Wahl?

Ich denke schon, denn es sollte nun ein möglichst normales Umfeld geschaffen werden. Entscheidend vor allem ist, dass die Unterbringung längerfristig geplant ist, damit das Kind dort Bindungen aufbauen kann. Eine Heimunterbringung wäre zwar spezialisierter, aber auch deutlich unpersönlicher. Man muss schauen, wie die Resilienz ausgeprägt ist, wie gut das Kind das Erlebte wegstecken kann. Wenn beispielsweise eine Angststörung vorhanden ist, könnte auch eine intensive psychologische Betreuung notwendig sein.

Verdacht auf falsch verstandene Fürsorge

Es steht die Frage nach dem Motiv im Raum, warum Mutter und Großeltern das Kind überhaupt isoliert haben. Offenbar schwelte im Hintergrund ein Sorgerechtsstreit, die Mutter wollte dem Vater das Kind womöglich vorenthalten. Was geht in solchen Menschen vor, wenn sie zu solchen Mitteln greifen?

Das ist natürlich spekulativ. Nach dem, was bislang bekannt ist, klingt es zunächst mal nach einer falsch verstandenen Fürsorge. Die Mutter wollte eventuell das Beste für ihr Kind, hat dabei aber weniger an das Kind gedacht, sondern vielmehr an die Durchsetzung eigener Bedürfnisse, nach dem Motto: So habe ich das Kind für mich allein, keiner pfuscht mir dazwischen.

Sind Ihnen derartige Fälle schon einmal begegnet?

In dieser extremen Form nicht. Eine komplette Abschottung über einen solchen Zeitraum ist ja schon rein technisch nicht so einfach zu bewerkstelligen und mit einem hohen Betreuungsaufwand verbunden. Die meisten Eltern sind ja froh über einen Kitaplatz, um entlastet zu werden. Ab und an gibt es dabei Fälle mit sogenannten artifiziellen Störungen wie etwa das Münchhausen-by-proxy-Syndrom. Dabei täuschen Elternteile Krankheiten beim Kind vor, um daraus eine alleinige Fürsorge abzuleiten. Aber auch das ist eher selten. Dass gerade bei Streitigkeiten die Elternteile versuchen, das Kind allein für sich zu beanspruchen, ist leider ein sehr häufiges Phänomen.

Gegen das zuständige Jugendamt werden in diesem Fall schwere Vorwürfe erhoben. Es soll mehrere Hinweise bekommen haben, diesen aber nicht konsequent genug nachgegangen sein. Eine Hausdurchsuchung soll die Polizei zunächst abgelehnt haben. In Ihrer Klinik haben Sie auch viel mit dem Jugendamt zu tun. Wie würden Sie die Zusammenarbeit beschreiben?

Bessere finanzielle Ausstattung für Jugendämter gefordert

Ich sehe engagierte Mitarbeiter, die aber aus personellen Gründen auch oft überfordert sind. Ich halte es für falsch, das Jugendamt als alleinigen Schuldigen hinzustellen. Es ist nötig, die Jugendämter finanziell und personell so aufzustellen, dass sie ihrer Arbeit in der erforderlichen Weise und zum Wohl aller nachgehen können.

Hat das Kind eine Chance, ohne größere psychische Folgen groß zu werden?

Genau das muss das Ziel sein. Es muss jetzt all die Dinge lernen und aufholen, die es verpasst hat. Aber das kann das Mädchen alles schaffen, wenn man sich jetzt gut um sie kümmert und sie Vertrauen in die Welt und ihre neuen Bezugspersonen fassen kann.

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