Gastbeitrag zur PandemieKaum wird gelockert, werden wir Corona-nostalgisch

Volle Cafés und frühsommerliche Stimmung auf der Breite Straße in Köln
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- Stephan Grünewald ist Geschäftsführer des Kölner „rheingold“-Instituts. Er schreibt aus psychologischer Sicht über gesellschaftlich relevante Themen.
- Diesmal beschäftigt er sich mit der Frage, wie wir auf die Lockerungen reagieren. Eine Gratwanderung zwischen Nostalgie und Euphorie
Das Alltagsleben hat sich in den letzten Wochen fulminant verwandelt. Der Sommer zeigt endlich sein Sonnengesicht. Die Corona-Inzidenzwerte purzeln rasant. Die Menschen genießen es, sich wieder im Café oder Restaurant verwöhnen zu lassen. Vor allem junge Leute strömen in die Parks, Biergärten oder Plätze und lassen das bunte, pulsierende, unbeschwerte Stadtgefühl aufleben. Nach den Monaten des Lockdowns sehnen sich viele nach Begegnung, Nähe und Berührung. Flirt liegt in der Luft. Aber in die Euphorie des Aufbruchs mischt sich mitunter ein Gefühl der Unwirklichkeit.
Vieles mutet zu schön, an um wirklich wahr zu sein. Der plötzliche Einbruch der Sommerfreiheit überrascht oder überrumpelt die Menschen. Denn durch die schier endlosen Lockdown-Wiederholungs-Schleifen ist die Gesellschaft aus dem Takt und aus dem Tritt geraten. Es kommt zu Alltags-Rhythmus-Störungen, die sich ganz unterschiedlich bemerkbar machen.
Rauschhafte Kompensation
Vor allem junge oder lebenshungrige Menschen neigen zu einer fast rauschhaften Kompensation. All das soll nachgeholt werden, was im kollektiven Vorruhestand alias Lockdown brach gelegen hat: Shoppen, reisen, gemeinsam feiern, Party machen, beim Public Viewing steil gehen, im Club oder in der Disco wieder die Nacht durchtanzen.

Stephan Grünewald
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Andere verweilen eher in einem „Weiter so wie bisher“. Zwar genießen auch sie den Sommer und gehen vielleicht mal wieder Kaffee trinken oder essen. Sie bleiben aber noch weitgehend in Deckung und halten an den Routinen und Tagesläufen fest, mit denen sie die Zeit des Lockdowns gut bewältigt haben.
Einsetzende Verklärung
Bereits jetzt zeigen sich neben der Lockerungs-Euphorie erste Ansätze einer Lockdown-Nostalgie, die sich in den nächsten Monaten stärker entfalten wird. Jenseits aller Gefahren und Opfer wird die Corona-Zeit dann als Phase der Entschleunigung, der Überschaubarkeit, der Monothematik und der familiären Selbstbezüglichkeit verklärt werden. Denn ein knappes Drittel der Bevölkerung hatte sich – auf Basis seiner finanziellen und räumlichen Verhältnisse – gut in einer Art Corona-Biedermeier-Welt eingerichtet.
Diese Gruppe erlebte den drastisch verkleinerten Lebenskreis weniger als Beschränkung denn als Entlastung. Insgeheim waren die Menschen erleichtert, dass sie im Dienst der Gesundheit keine fremden Leute mehr kennen lernen sollten, keine fernen Länder mehr bereisen durften und sich keinen neuen Herausforderungen stellen mussten. Mit leiser Wehmut werden sie auf die Zeit zurückblicken, in der Ruhe und Mobilitätsreduktion erste Bürgerpflicht waren und der Neid auf das Leben der Anderen keine Rolle spielte, da alle das gleiche Leben führten.
Die Gesellschaft muss sich neu ausrichten
Jenseits der euphorischen Selbstvergessenheit und der nostalgischen Selbstkonservierung steht die Gesellschaft vor der Aufgabe, sich auf eine neue Zeit auszurichten. Das wird nicht ohne eine kritische Bilanz der Corona-Zeit und der Aufarbeitung drängender Fragen gehen:Wie gehen wir damit um, dass die seelischen und wirtschaftlichen Opfer so ungleich verteilt waren?
Vor allem für die Menschen, die räumlich beengt leben, waren Home Schooling oder Home Office eine existenzielle Zumutung. Zudem werden wir in den nächsten Monaten viele Insolvenzen erleben. Vor allem kleine Unternehmen, Selbstständige und Gewerbetreibende in Handel und Gastronomie werden es sehr schwer haben.
Seelenschäden und Zerwürfnisse
Wie gehen wir mit den Seelenschäden um, die die Schul- und kontaktarme Corona-Zeit nicht nur bei Kindern und Jugendlichen hervorgerufen hat?
Wie kitten wir die Zerwürfnisse, die im Familien- oder Freundeskreis entstanden sind, als die Frage nach dem richtigen Umgang mit der Gefahr zum Glaubenskrieg wurde?
Und wie finden wir im Herbst zu einem konstruktiven Umgang mit dem Coronavirus, ohne dabei in Ignoranz oder Panik zu verfallen?
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Covid-19 wird Teil unserer Lebenswirklichkeit bleiben. Die Entspannung des Sommers wird kein Dauerzustand sein, denn das Virus folgt einem Jahreszeiten-Rhythmus, der in unserem Verhalten sinnbildlich den Umstieg von Sommer- auf Winterreifen erfordert. Mutanten, Masken, Abstandsregel und sporadische Tests werden unsere lästig-hilfreichen Wegbegleiter bleiben.
Aber als Einzelne und als Gesellschaft haben wir auch in der Pandemie bewiesen, dass wir etwas ändern und bewirken können. Das kann uns für diese Herausforderungen die nötige Veränderungszuversicht geben.