Gefährliche Medikamenten-Engpässe„Vorrat ist totes Kapital“

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Besonders Impfstoffe sind hierzulande gerade knapp.

Besonders Impfstoffe sind hierzulande gerade knapp.

  • Ein Großteil der Arznei-Wirkstoffe für den deutschen Markt wird aus wirtschaftlichen Gründen in China produziert.
  • Pharmazeutin Ulrike Holzgrabe kritisiert das seit Jahren und hofft, dass die Corona-Krise zu einem Umdenken führt.
  • Zum einen entstünden dadurch gefährliche Lieferengpässe, zum anderen könne die Produktion in China nur schwer kontrolliert werden.

„Wir waren in den 1970er und 1980er Jahren die Apotheke der Welt“, sagt die Pharmazeutin und Chemikerin Prof. Ulrike Holzgrabe. Und heute? „China braucht keine Atombombe. Es reicht, wenn China keine Antibiotika mehr liefert, dann erledigt sich Europa von allein.“ Dieses Urteil gab sie bereits vor 15 Jahren ab und hat es jüngst wieder öffentlich in Erinnerung gerufen angesichts der verschärften Lieferengpässe bei Arzneimitteln, Schutzkleidung, Atemschutzmasken und mehr in der Corona-Krise. Das Dilemma gibt es aber nicht erst seit Corona und ist längst allen bekannt.

Dennoch ist Ulrike Holzgrabe bisher eher eine einsame Ruferin in der Wüste gewesen. Der erste Bundespolitiker, der sich kürzlich dazu öffentlich geäußert hat, dass es sinnvoll wäre, die Medikamentenproduktion nach Deutschland zurück zu holen, war Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU).

Es sei Aufgabe der Politik, dies zu veranlassen, so Ulrike Holzgrabe, aber „politisch ist das nicht gewollt“ – allen öffentlichen Bekundungen zum Trotz. „90 Prozent der Wirkstoffe allein für Antibiotika werden in China hergestellt und zur Weiterverarbeitung nach Indien geliefert, und 90 Prozent der Wirkstoffe für andere Medikamente gehen ebenfalls diesen Produktionsweg.“ Das sei seit rund 25 Jahren gang und gäbe. „Die Gründe sind rein wirtschaftlicher Natur. Für die Krankenkassen zählt nur der Preis, und der muss niedrig sein.“

Der deutsche Medikamentenmarkt ist klein

Für Pharmakonzerne wäre die Medikamentenproduktion in Deutschland höchst uninteressant. Der deutsche Markt ist klein, die Aussicht auf Gewinne ebenfalls. Wirtschaftlich reizvoll wäre das Rückholen der Medikamentenproduktion in hiesige Breiten nur, wenn die EU europaweit den Markt anbiete für Produktion und Absatz. Dem viel zitierten Argument, dass Verbraucher für in Deutschland oder Europa produzierte Medikamente deutlich mehr zahlen müssten als bisher, hält Holzgrabe entgegen: „Vielleicht würden sich Arzneimittel, aber das ist reine Schätzung, um fünf Prozent verteuern.“

Eine Verlagerung der Arzneimittel- und Wirkstoffproduktion zurück nach Deutschland und Europa würde Jahre dauern. Derzeit werden bundesweit im Wesentlichen nur solche Medikamente hergestellt, die unter Patentschutz stehen und die somit für eine gesetzlich festgelegte Zeit vor Nachahmung geschützt sind – zu Gunsten der Firma, die die Forschung und Entwicklung durchgeführt und finanziert hat und „jeden Preis für das neue Medikament erzielen kann“.

Sobald das Medikament aus dem Patent falle, so Holzgrabe, werde die Produktion ins Ausland verlagert. Am Beispiel von Impfstoffen wird das deutlich. Gegen Lungenentzündung kann derzeit nicht oder nur sporadisch geimpft werden, weil der Impfstoff häufig nicht lieferbar ist. „Wir hatten mal die berühmteste Impfstoff-Produktion mit den Behringwerken. Doch dort werden heute nur noch ganz spezielle Produkte hergestellt.“

Die Produktion in China ist schwer zu kontrollieren

Auf die Wirkstoff- und Arzneimittelproduktion, die Herstellung von Schutzkleidung, Atemschutzmasken, Beatmungsgeräten in China und Indien verlässt sich nicht nur Deutschland und die gesamte EU, sondern auch die USA, was leidvoll zu erfahren war aufgrund der Beschlagnahmung von Schutzmasken durch US-Präsident Donald Trump.

Holzgrabe bestätigt den Chinesen, dass sie nicht nur die Herstellung von Schutzkleidung, sondern auch „die Produktion von Wirkstoffen hervorragend beherrschen“. Aber ob dort alles so produziert werde, wie das in hiesigen Breiten aufgrund der strengen Vorschriften der Falle wäre, „dessen sind wir uns nicht sicher. Wir können nur hinfliegen und uns zeigen lassen, ob alles in Ordnung ist“.

Wie das gehandhabt wird, lässt Zweifel an der Wirksamkeit solcher Kontrollen aufkommen. „Wir rufen vier Wochen vorher an, dass wir uns alles anschauen und auch die Dokumentationen sehen möchten.“ Zeit genug also, in China alles vorzeigbar herzurichten. Holzgrabe bestätigt, dass viele Produktionsstätten in Ordnung seien, aber man sehe auch Werkshallen, die reines Demonstrationsobjekt seien.

Kaum Rücksicht auf Umweltschutz in China

Es könne schon mal vorkommen, dass man in so einer Super-Halle einen Lichtschein unter einer verschlossenen Tür wahrnehme, sie öffne und in der eigentlichen Produktionsstätte stehe, die man so nicht habe zeigen wollen. Oder aber man lehne sich an eine Wand, die plötzlich nachgebe und den Blick frei mache auf die Herstellung von Wirkstoffen. „Unsere strengen Vorschriften gelten nicht notwendigerweise auch in China und Indien. Dort gilt das Recht des Landes, in dem produziert wird.

In China spielt Umweltschutz nur bedingt eine Rolle, in Indien so gut wie keine.“ Das führe in letzterem Land dazu, dass „Gewässer und Umwelt mit antibiotischen Stoffen verseucht sind, wodurch Resistenzen entstehen, die wir importieren“. In China führte vor nicht allzu langer Zeit die Verunreinigung von Valsartan und Heparin zu heftigen Lieferengpässen. Sartane sind die Wirkstoffe in Bluthochdruck-Mitteln und Heparin als Blutverdünner-Wirkstoff unerlässlich, um Schlaganfall- und Herzinfarkt-Risiken zu minimieren.

Zu den Arzneimittel-Produkten, die stark gefragt, aber derzeit so gut wie nicht lieferbar sind, gehören aktuell vor allem auch Narkosemittel und bestimmte Schmerz- und Beruhigungsmittel, die auf Intensivstationen eingesetzt werden. Der Mehrbedarf durch die Langzeitbeatmung von Covid-19-Patienten und die gestiegene Nachfrage auf dem gesamten Weltmarkt hat zu Lieferschwierigkeiten geführt. Auch mit Blick auf die schweren Corona-Fälle und andere Schwerkranke, ist das „ein gefährlicher Engpass“, so Holzgrabe.

Engpässe: Vorrat ist totes Kapital

Solche Engpässe gibt es seit rund sieben Jahren. „In der Regel“, so die Pharmazeutin, „verbringt ein Apotheker mindestens sechs bis acht Stunden pro Woche damit, Alternativprodukte zu beschaffen und sich mit Ärzten zu besprechen, wenn das Original nicht lieferbar ist.“ Für diese Engpässe, so die Stimmen aus diversen Lagern, könne man sich doch Medikamentenvorräte anlegen. „Warum“, so fragt Holzgrabe, „sollte der Großhandel das tun. Die wehren sich mit Händen und Füßen. Vorrat ist totes Kapital. Das gilt auch für Apotheken.“

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Preiswerte Generika wie etwa Paracetamol werden ausschließlich im Ausland produziert. „Mit der Menge macht man das Geschäft.“ Die Lagerhaltung vollzieht sich auf der Straße, wo riesige Lkw mit Schmerzmitteln unterwegs sind. „Ein Riesenvermögen auf Rädern. Die Lkw müssen rollen.“ Ulrike Holzgrabe hat die vage Hoffnung, dass die Corona-Krise ein Umdenken in der Arzneimittelherstellung bewirkt, zumindest bei Substanzen gegen Krebs, bei Antibiotika und Herzmedikamenten.

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