Polizei. Meine Kinder. Vergewaltigung. Was genau sie damals in ihr Handy geschrien hat, weiß Angelika Müller (Name geändert) nicht mehr so genau. Was in den Stunden zuvor geschah, daran kann sie sich jedoch noch genau erinnern. Viele Male schon hat sie vor Gericht schildern müssen, wie ihr damaliger Ehemann sie an dem Montag im Oktober 2011 in ihrer Wohnung geschlagen und vergewaltigt hat. Auch, weil sich jeder seiner Sätze in ihr Gehirn gebrannt hat, weil sie jede ihrer Verletzungen einer seiner Handlungen zuordnen konnte, ist ihr Ex-Mann für seine Tat zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Aus demselben Grund muss sie sich manchmal vor Ekel übergeben. Wenn sie im Bett liegt zum Beispiel, und die Bilder ungefragt in ihrem Kopf auftauchen.
Angelika Müllers Erinnerungsattacken sind ein Symptom einer Posttraumatische Belastungsstörung. Viele andere Frauen, die nach einer Vergewaltigung daran leiden, können sich allerdings kaum noch an die Tat erinnern. Weil ihre Psyche verdrängt, was ihnen angetan wurde. Um die Seele zu schützen. Jede dritte Frau in der Europäischen Union, etwa 62 Millionen, hat nach Angaben der EU-Grundrechte-Agentur (FRA) seit ihrer Jugend körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt. In immer mehr Fällen sind es, wie bei Angelika Müller, die eigenen Partner, die gewalttätig werden. Einer in diesem Jahr veröffentlichten Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsens zufolge stieg der Anteil der Tatverdächtigen aus dem Verwandtenkreis von 1994 bis 2012 von 7,4 auf 27,9 Prozent. Das hat natürlich etwas damit zu tun, dass Vergewaltigung in der Ehe erst seit 1997 ein Straftatbestand ist. Tatsächlich ist das eigene Zuhause aber für viele Frauen ein gefährlicherer Ort als eine dunkle Gasse. Experten gehen davon aus, dass Vergewaltigungsopfer den Täter eher anzeigen, wenn er ein Fremder ist. Kommt es doch zur Anzeige, berufen sich viele Ehemänner darauf, dass der Geschlechtsverkehr einvernehmlich gewesen sei, höchstens etwas „grob“. So argumentierte auch Angelika Müllers Mann vor Gericht.
Kaum Verurteilungen
Tatsächlich ist das Gegenteil oft nur schwer zu beweisen. Zeugen gibt es fast nie und DNA-Spuren sagen nicht viel aus, wenn Opfer und Täter sich so gut kennen. Das zeigt sich auch in der Statistik: Der Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts zufolge wurden 2012 bei nur noch 8,4 Prozent der angezeigten Vergewaltigungen die Täter auch verurteilt – vor 20 Jahren waren es noch 21,6 Prozent. Studienleiter Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, sieht einen Grund darin, dass die Beweislage bei Vergewaltigungen in der Ehe schwierig ist.
Werner Adamek ist Opferschutzbeauftragter bei der Kölner Polizei. Er rät, sich nach einer Vergewaltigung sofort an die Polizei zu wenden, damit auch am Tatort Spuren gesichert werden können. Wer nicht sicher ist, ob er Anzeige erstatten möchte, sollte wissen: Ist die Polizei einmal über eine Straftat informiert, muss sie den Fall weiterfolgen.
Angelika Müller weiß, dass viele Frauen Demütigungen und Vergewaltigungen ertragen, bis sie schließlich daran zugrunde gehen – aus Scham, Angst oder weil sie den Vater ihrer Kinder nicht ins Gefängnis bringen wollen. Und sie könne jede Frau verstehen, die das tut. „Aber man muss sich noch so viel Wert sein, dass man für sich kämpft“, sagt die 36-Jährige.
Die zweifache Mutter sitzt an einem Sommertag 2014 in einem Besprechungsraum des Sozialdienstes katholischer Frauen in Köln. Bei ihr ist Christiane Stermann, die beim Gewaltschutzzentrum des Sozialdienstes im Bereich „Häusliche Gewalt“ arbeitet und Angelika Müller schon lange begleitet und berät. Angelika Müller nennt sie „ihren Schutzengel“.
Oben aus Müllers T-Shirt schauen neongelbe und neonpinke Streifen hervor – Tapes, die gegen das Taubheitsgefühl in der Schulter helfen sollen, die Spätfolge einer ihrer Verletzungen. Ihre seelischen Verletzungen werden nie heilen, sagt sie, aber wen sie nicht kennt, den lässt sie das nicht sehen. Ihre Stimme klingt fröhlich, obwohl Angelika Müller lange nicht mehr froh war. Sie möchte Frauen, denen das gleiche angetan wurde wie ihr, dazu ermutigen, sich Hilfe zu holen, Anzeige zu erstatten und sich aus der Opferrolle heraus zu kämpfen.
Plötzlich war alles anders
Als sie zu erzählen beginnt, hasten ihre Augen hin und her wie zwei Gehetzte. Ihr Geist ist auf Zeitreise gegangen, zurück zu dem Tag im Oktober 2011. Dem Tag, nach dem alles anders war. Sie eine andere war. An eben diesem Tag bereitet sie am frühen Abend Essen für ihre Kinder zu. Die ein- und sechsjährigen Jungen sind mit ihrem Vater, Müllers damaligem Mann, unterwegs. Sie hat sich von ihm getrennt, nachdem er sie gedemütigt, betrogen und Kinder mit anderen Frauen gezeugt hat.
Bevor sie ihm an diesem Abend die Tür öffnet, blickt sie durch den Türspion, sieht ihn, vor sich den Kinderwagen des Jüngsten. „Der hat aber einen schlechten Tag“, denkt sie, als sie sein verhärmtes Gesicht sieht.
Sie öffnet die Tür, um ihre Kinder in Empfang nehmen. Was dann geschieht, wird sie der Polizei später so beschreiben: Er rammt ihr den Kinderwagen in den Bauch. Sie landet rückwärts auf dem Fußboden im Flur, benebelt vor Schmerzen, aber weil sie die Kinder nirgendwo sehen kann, steht sie schnell wieder auf. Der Kinderwagen ist leer. Als sie an ihrem Mann vorbei nach draußen in den Hausflur gehen will, um die Kinder zu rufen, schubst er sie wieder zurück. Sie fragt ihn, was er da eigentlich macht. Er antwortet ihr: Die Kinder sind nicht da. Die sind schon tot.
Die Erinnerung an den Schmerz, den sie in diesem Moment fühlte, lässt sie weinen. „Jedes Mal, wenn er die Kinder nach Hause gebracht hat, haben sie schon im Hausflur laut „Mama“ gerufen“, erzählt sie. Dieses Mal war es still. „Ich war so wütend, weil ich meine Kinder nicht gesehen habe“, sagt sie unter Tränen. Die Wut, die sie damals spürte, ist auch heute noch präsent, in ihrem Gesicht, in ihrer Stimme, die jetzt eine andere ist, härter. Aus seiner Hosentasche habe ihr Mann eine Pistole geholt und ihr an die Schläfe gehalten. „Er sagte: Du musst jetzt als nächstes sterben. Du wirst mich nicht verlassen.“
Keinen Schmerz gefühlt
Er reißt sie zu Boden und legt sich auf sie. Als sie anfangen will zu schreien, hält er ihr den Mund zu und würgt sie, bis sie sich fast übergibt. Er packt sie an den damals noch langen, vollen Haaren und schleift sie über den Fußboden ins Schlafzimmer. Schmeißt sie aufs Bett, lässt die Jalousien runter, dreht die Musikanlage auf. „Er hat gelacht und gesagt: Dich wird keiner hören, du wirst mickrig sterben müssen.“ Zu diesem Zeitpunkt hat er sie schon mehrfach gegen die Wand geschleudert, aber den Schmerz habe sie nicht gefühlt. Auch keine Angst. „Was ist das Leben noch wert, wenn die Kinder tot sind“, sagt sie. Dass ihre Kinder noch am Leben sind und zu dieser Zeit mit ihrer Halbschwester spielen, weiß sie zu dem Zeitpunkt nicht. Als sie etwas sagen will, droht er, ihr die Zunge abzuschneiden. „Er hat gesagt: Jetzt rede ich“.
Welche Rechte habe ich? Wo bekomme ich finanzielle und therapeutische Hilfe? Vergewaltigungsopfern fehlt oft die Kraft, um sich die nötigen Hilfsangebote zusammenzustellen. Sozialpädagogen wie Christiane Stermann vom Sozialdienst katholischer Frauen (Foto) helfen bei Fragen oder hören einfach zu.
Aber er redet nicht. Er vergewaltigt sie. „Heftig, beschämend, erniedrigend. Irgendwann habe ich nur noch gedacht: Drück doch einfach ab, dann ist es endlich vorbei.“ Aber erst als sie vor Schmerzen reglos da liegt, lässt er von ihr ab. „Dann stand er über mir, lachte hämisch und sagte: Ach übrigens, die Kinder sind am Leben. Die hole ich jetzt gleich. Dann machen wir Runde zwei und dann schieße ich euch alle tot. Dann siehst du, wie deine Kinder sterben müssen und dann bist du dran.“
Bevor er geht, zieht er noch einmal die Waffe, droht ihr, ja keinen Fluchtversuch zu machen. Ihren Schlüssel nimmt er mit. Aber ihr Handy vergisst er. In der Wohnung ist ein Funkloch, Angelika Müller hat dort fast nie Empfang. Sie denkt: Bitte, bitte, lass es funktionieren, nur dieses eine Mal. Sie geht in die Küche, versteckt sich in der Kochnische, wählt 110. Es funktioniert. Kurze Zeit später sind Krankenwagen und Polizei da. Die Polizei beginnt sofort damit, die Kinder zu orten. „Als die Sanitäter sich um mich kümmern wollten, habe ich immer nur gerufen: Nicht anfassen“, erinnert sich Angelika Müller. Eine Notärztin wird geholt, die darf sie schließlich behandeln. Aber ins Krankenhaus bringen lassen will sich Angelika Müller nicht. „Erst wollte ich meine Kinder sehen, wissen, dass es ihnen gut geht.“ Sie kauert auf einem Stuhl.
Schnittwunden und Hämatome
„Es war ein Chaos. Mehrere Polizeibeamte sind raus und rein gelaufen, haben mich abwechselnd befragt.“ Irgendwann hört sie endlich ihre Kinder, ihre Schreie, als die Polizisten den Vater in ihre Gewalt nehmen. „Das Gesicht von meinem älteren Sohn werde ich nie vergessen“, sagt Angelika Müller. „Er wusste gar nicht, wohin mit sich.“ Dieses Bild und die Tränen ihres Vater, als er sie zum ersten Mal nach der Vergewaltigung sah, schmerzen sie bis heute mehr als ihre eigenen Verletzungen.
Sie nennt ihren Vergewaltiger nicht ihren „Mann“ oder „Ex-Mann“. Nur „ihn“ oder „er“. „Er hat das nicht nur mir angetan, sondern auch meiner Familie und meinen Freunden“, sagt sie. „Er hat mich vergewaltigt, als hätten meine Eltern mich nicht auf die Welt gebracht, um mich glücklich zu sehen.“ Die Kinder bleiben bei den Nachbarn, Angelika Müller wird ins Krankenhaus gebracht. Bevor sie in das Untersuchungszimmer der Gynäkologin geht, ruft sie ihren Chef an: „Ich glaube, ich komme morgen nicht zur Arbeit. Ich glaube, mir geht es nicht gut“. Dass daraus fünf Monate werden sollen, in denen an Arbeit nicht zu denken ist, das kann ihr da noch gar nicht klar sein, weil einfach gar nichts klar ist.
Die Ärztin untersucht sie behutsam, fotografiert ihre Verletzungen: Vaginalrisse, Schnittwunden am Fuß, ein tiefer Kratzer am Rücken, überall dunkelblaue und rote Hämatome, der Kiefer ist verschoben. „Draußen haben schon drei Beamte der Kriminalpolizei, auf mich gewartet“, erzählt Angelika Müller. Ob sie Anzeige erstatten wollte, danach hat sie niemand gefragt. „Alles lief wie am Fließband“, erinnert sie sich. „Wie in einem Film, und ich war die Hauptperson. Ob ich wollte oder nicht, ich konnte nichts tun.“
Mehr Zeit für Opfer
Sozialpädagogin Christiane Stermann, kurze, braune Haare, fixierende blaue Augen hinter einer Brille, ist eine, die zupackt. Sie war für Angelika Müller stark, wenn sie es selbst nicht sein konnte. Hatte bei allem Mitgefühl die juristischen Fakten im Blick, wenn in Angelika Müller die Wut brannte. Sie sagt, aus Sicht der Polizei mache dieses Vorgehen durchaus Sinn. Schließlich geht es darum, schnell Beweise zu sichern. Trotzdem wäre es für die Opfer besser, wenn ihnen etwas Zeit gegeben würde. „Ich würde immer darauf hinweisen, dass es nicht notwendig ist, in dieser Situation schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Schließlich ist man in dem Moment gar nicht Herr seiner Sinne“, sagt Stermann. Indem man den Frauen die Entscheidung überließe, ob und wann sie Anzeige erstatten, gäbe man ihnen die Chance, aus der Opferrolle herauszukommen, und nicht nur fremdbestimmt zu funktionieren.
Anonyme Spurensicherung in Köln
Seit drei Jahren gibt es in Köln die Anonyme Spurensicherung. Wer vergewaltigt wurde, kann sich in fünf Krankenhäusern in Köln von speziell geschulten Ärzten untersuchen und Spuren sichern lassen. Dies sollte in den ersten 24 Stunden nach der Tat geschehen. Die Spuren werden dann zwei Jahre lang bei der Gerichtsmedizin verwahrt. In dieser Zeit können sich die Frauen selbst entscheiden, ob und wann sie soweit sind, Anzeige zu erstatten – oder die Frist verlängern lassen.
Angelika Müller hätte die Anonyme Spurensicherung nicht in Anspruch nehmen können, selbst, wenn es die damals schon gegeben hätte. „Wenn die Polizei einmal eingeschaltet ist, muss sie den Fall auch weiterverfolgen und dann ist es für eine Anonyme Spurensicherung zu spät“, erklärt Werner Adamek, Opferschutzbeauftragter der Kölner Polizei. Die Polizei ermittelt dann, unabhängig davon, ob das Opfer selbst Anzeige erstatten möchte. Aus Adameks Sicht hat es für die Aussicht auf Erfolg eines Prozesses Vorteile, wenn die Polizei von Anfang an eingeschaltet ist: „Bei der Anonymen Spurensicherung werden Sekrete gesichert, konserviert und Verletzungen dokumentiert. Aber nur die Polizei kann auch Fasern von Autositzen oder in einem Zimmer sichern und Zeugen vernehmen.“ Wer in Köln zu einer Polizeiwache gehe, weil er vergewaltigt wurde, werde zum Kriminalkommissariat 12 oder außerhalb der üblichen Bürozeiten zur Kriminalwache gebracht. „Im Kriminalkommissariat 12 sitzen Beamte, die auf Vergewaltigungsfälle und andere Sexualdelikte spezialisiert sind. Alle Beamtinnen und Beamten sind geschult im Umgang mit Vergewaltigungsopfern“, sagt Adamek.
Hilfe vom Weissen Ring
Auch Angelika Müller saß dort nachts nach der Tat im Büro eines Kriminalbeamten, der ihr einen Schokoriegel und ein Glas Wasser hinstellte. „Er war der erste Mensch, der ganz ruhig war, fast väterlich.“ Später fuhr er sie nach Hause, damit sie ein paar Sachen packen konnte. In der Wohnung bleiben durfte sie nicht, auch wenn ihr Mann bereits in Polizeigewahrsam war. Erst musste die Spurensicherung rein. Die Kraft, für sich und ihre Kinder eine Bleibe zu organisieren, musste sie in dieser Nacht noch selbst aufbringen. Ihre Kinder konnten erst einmal bei ihrer Schwester bleiben. Der Kriminalbeamte nahm sie in den Arm und sagte: „Du schaffst das, du bist stark.“ Er gab ihr eine Telefonnummer vom Weissen Ring, der Angelika Müller später Christiane Stermann vermittelte. Dass es ein Opferschutzgesetz gibt, dass beim Landschaftsverband Geld für eine Therapie beantragt werden kann – all das erfährt sie von der Sozialpädagogin. Jeder Frau, die vergewaltigt wurde, werde Hilfe von der Polizei vermittelt, versichert Werner Adamek. In der Regel sollten die zuständigen Kollegen die dafür nötigen Anrufe für die Frau erledigen. „Der Weisse Ring ist oft schon ausreichend, denn der gibt den Frauen die Möglichkeit zum Gespräch, aber auch einen Gutschein für eine kostenlose Erstberatung beim Anwalt und bei der Psychotherapie.“
Wie ein Verhör
Schon um 8 Uhr früh am folgenden Tag klingelte Angelika Müllers Handy: Sie muss wieder zum Kriminalkommissariat. Ist ein Verdächtiger in Haft, müssen binnen 24 Stunden dem Staatsanwalt und dem Richter alle Beweise vorgelegt werden, sonst darf er wieder auf freien Fuß.
An diesem Tag erwartet Angelika Müller eine Beamtin. „Es war wie bei einem Verhör“, sagt Müller. „Sie hat mich knallhart ausgefragt, hat alles mitgeschrieben. Dann sollte ich mich nackt ausziehen.“ Die Beamtin will noch einmal Fotos von den Verletzungen machen, für den Fall, dass die Bilder der Gynäkologin vor Gericht keinen Bestand haben. Angelika Müller muss sich dafür ausziehen. „Das war so erniedrigend“, sagt sie. „Man fühlt sich, als hätte man keine Rechte mehr, und dann nimmt sie die Kamera und macht auch noch Fotos von einem.“ Sie benutzt selten „ich“, wenn sie erzählt, was ihr geschehen ist, sie sagt „man“.
Fotos zu machen, ist eigentlich Aufgabe des Arztes. „Nur wenn die Polizei einen Hinweis darauf hat, dass die Fotos, die der Arzt gemacht hat, nicht ausreichend sind, kann es im Einzelfall vorkommen, dass auch bei der Polizei noch einmal Aufnahmen gemacht werden“, sagt Adamek.
Erinnerung an jedes Detail
Erst sechs Monate später, im April des darauffolgendes Jahres sieht Angelika Müller die Fotos, die an diesem Tag entstanden sind, zum ersten Mal – und weint. Jedes einzelne Foto musste sie erklären, jede Verletzung. Sie erinnert sich an jedes Detail. Und trägt so dazu bei, dass ihr Ex-Mann zu vier Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt wird.
Vielen Vergewaltigungsopfern fällt es schwer, vor Gericht noch einmal zu erzählen, was ihnen angetan wurde.
Ob Angelika Müller froh war, dass ihr Ex-Mann verurteilt wurde? „Nein, mit Freude hat das nichts zu tun“, winkt sie entschieden ab. Es sei ihr auch nicht bessergegangen. „Aber ihn anzuzeigen war der einzig richtige Weg.“ Weil ihre Kinder, sie selbst und auch andere Frauen erst einmal vor dem Täter sicher sind. Weil ihr Leiden anerkannt wird. Weil sie ihr Recht auf Selbstbestimmung verteidigt hat.
Ihr Fall ist einer der wenigen, bei denen der Täter verurteilt wurde. Denn selbst wenn man davon ausgeht, dass zehn bis 15 Prozent der angezeigten Vergewaltigungen gar nicht stattgefunden haben, müssen immer noch mehr als 90 Prozent der Frauen damit leben, dass ihr Vergewaltiger nicht verurteilt wird. Die Prozentzahl unterscheidet sich der Studie des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen allerdings von Bundesland zu Bundesland erheblich – wie es in welchem Bundesland aussieht, wird jedoch geheim gehalten, um Frauen nicht zu entmutigen. Die Unterschiede sind eklatant: In einem Bundesland wird der Täter in jedem vierten Fall verurteilt, in einem anderen in jedem 25. Fall.
Kriminalpsychologe Pfeiffer macht Unterschiede in der polizeilichen Vernehmung und Dokumentation dafür verantwortlich. Er weist darauf hin, dass eine Frau eine bessere Chance im Prozess hätte, wenn die erste Vernehmung auf Ton- oder Videoband mitgeschnitten würde. Der Regelfall ist das jedoch nicht, da das zeit- und kostenaufwändig ist. „Die Polizei macht Tonbandaufnahmen grundsätzlich nur bei Minderjährigen. Bei Volljährigen nur in Einzelfällen“, bestätigt Werner Adamek. Im Normalfall wird die Aussage mitgeschrieben und dem Opfer anschließend zur Autorisierung vorgelegt. So war es auch bei Angelika Müller. Problematisch ist, dass eine Opferentschädigung wie etwa die Bezahlung einer Traumatherapie meist vom Ausgang des Strafverfahrens abhängig gemacht wird.
Betroffene müssen kämpfen
Zeit zu Heilen hatte Angelika Müller trotz Traumatherapie bis heute nicht. „Ich bin jede Woche zur Therapie gegangen, habe keinen Termin verpasst“, sagt sie. „Trotzdem sagt mir meine Therapeutin, dass es mir heute schlechter geht als kurz nach der Tat.“ Denn der Leidensweg höre einfach nicht auf: „Ich weiß schon jetzt, dass nächste Woche wieder viele Formulare kommen werden, die ich ausfüllen muss.“ Ohne Formulare keine Hilfe und keine Therapie. Es ist bereits vieles geschehen, um mehr Gerechtigkeit für Opfer zu schaffen. Vieles aber muss noch getan werden, sagt Christiane Stermann. „Die Betroffenen müssen sich immer wieder nackt machen, um Hilfe zu bekommen. Sie müssen für alles kämpfen, und das in einer Situation, in der sie ihre Energie für ganz andere, essenzielle Dinge brauchen, und nicht, um 16 Seiten Formular auszufüllen.“
Auch dafür, dass man ihr mitteilt, wenn der Täter aus dem Gefängnis kommt, musste Müller ein Formular ausfüllen. Dem Antrag wurde stattgegeben, weil Angelika Müller glaubhaft machen konnte, dass sie um ihre Sicherheit fürchtet.
Trotzdem erfährt sie nur per Zufall, dass ihr Mann in den offenen Vollzug verlegt wurde. Seit ihr Ex-Mann im Gefängnis ist, verfolgt Angelika Müller die Frage: Was passiert, wenn er ganz frei kommt? Möglicherweise schon auf Bewährung in diesem Jahr, spätestens aber 2016. „Dann geht die Jagd los“, ist sie sich sicher. Schutzmaßnahmen gibt es nicht. „Mir wurde gesagt, ich hätte ja nicht gegen die Mafia ausgesagt.“ Der Opferschutzbeauftragte Werner Adamek sagt, dass es nur in Einzelfällen Opferschutz gebe. „Das ist immer dann der Fall, wenn die Polizei unter Einbeziehung aller Fakten zum Ergebnis kommt, dass wirklich eine Gefährdung vorliegt.“ Schließlich müssten der Aufwand und die Kosten, den die Schutzmaßnahmen bedeuten, auch gerechtfertigt werden.
In ihrer Angst untergehen? Das kommt für Angelika Müller trotzdem nicht infrage. Heute ist sie sich sicher: „Es ging ihm nicht nur darum, mich zu töten. Es ging ihm ums Erniedrigen, um das Machtgefühl. Es ging um Männerkomplexe gegenüber einer Frau.“ Diese Macht will sie ihm nicht geben. „Meine Kinder haben ein Recht zu leben, ein Recht auf eine lebendige Mutter und ein Recht auf ein normales Leben.“ Sofern ein normales Leben möglich ist, wenn der Vater im Gefängnis ist. Weil er die Mutter missbraucht hat.
Rechtslücken
Ein klares „Nein“ des Opfers zu einer sexuellen Handlung reicht für eine Verurteilung des Täters nicht aus. Zu diesem Ergebnis kam der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (BFF) nach der Analyse von 107 Fällen schwerer sexueller Übergriffe, bei denen die Täter freigesprochen wurden. In allen Fällen hatten die Opfer verbal deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie keinen Sex wollten. Das Tatbestandsmerkmal der „schutzlosen Lage“ ist dem BFF zufolge kaum erfüllbar. Eine schutzlose Lage liegt dem Gesetz nach dann vor, wenn sich der Täter bewusst die fehlenden Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers zunutze macht und Fluchtmöglichkeiten fehlen – etwa, weil die Tür abgeschlossen und der Schlüssel unerreichbar versteckt wurde.
Im Fall einer schwangeren Frau etwa, deren Freund Sex mit ihr hatte, obwohl sie ihn anflehte, es sein zu lassen, war er nach Angabe des Gerichtes nicht erfüllt. Die Frau wehrte sich nicht, um ihr ungeborenes Kind nicht zu gefährden. Außerdem war die Haustür nicht abgeschlossen. Ihr Freund wurde freigesprochen. Der Verband fordert nun, Lücken im deutschen Sexualstrafrecht zu schließen. „Jede sexuelle Handlung ohne Einverständnis der Betroffenen muss strafbar sein“, heißt es im Fazit der Analyse.
Die Grünen fordern in einem Antrag an den Bundestag ein Gesetz zur Ratifizierung der sogenannten Istanbul-Konvention: In dem Übereinkommen, das Deutschland 2011 unterschrieben hatte, hatten sich alle Vertragsstaaten verpflichtet, „alle Formen vorsätzlich nicht einverständlicher sexueller Handlungen unter Strafe zu stellen“. Um das zu erfüllen, müssten der Partei zufolge „die Tatbestände gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ geändert werden.