Prozessauftakt in KölnKindesmissbrauch – Wermelskirchener wegen 124 Taten angeklagt

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Ein Missbrauchsopfer sitzt beispielhaft in einem Raum mit mehreren Videokameras und Mikrofonen für eine Aufzeichnung seiner Aussage.

Missbrauchsopfer gibt es in allen sozialen Schichten./Symbolfoto

Von Dienstag an muss sich ein Pädokrimineller aus Wermelskirchen vor dem Landgericht Köln verantworten. Die Anklage legt ihm insgesamt 124 Taten zur Last – tatsächlich aber könnte das nur die Spitze des Eisberges sein.

Die beiden Männer tauschten sich an jenem 11. November 2020 gut eine Stunde im Chat über ihre perversen Vorlieben aus. Marcus R. aus Wermelskirchen schien ganz aus dem Häuschen zu sein, als sein Bekannter aus Berlin ihm erzählte, dass er derzeit in zehn Familien meist kleine Jungen betreue. Mal brachte Sönke G. sie zum Kindergarten, mal spielte er den Babysitter, mal unternahm er mit seinen Schützlingen Ausflüge in den Tierpark oder in ein Spaßbad.

Das sei echt krass, entgegnete Marcus R. Wusste er doch nur zu gut, was sein Gesprächspartner bei jenen Gelegenheiten mit den Kindern anstellte. Immer wieder missbrauchte G. die Jungen, die jüngsten Opfer waren gerade einmal ein Jahr alt. Der Berliner schaltete Online-Inserate, schlich sich mitunter aber auch durch Empfehlungen von Jugendämtern als Betreuer in die Familien ein. In Wermelskirchen konnte sich Marcus R. kaum zurückhalten: „Schick mal Bilder!“, forderte der IT-Experte seinen Freund auf.

Als Babysitter in die Opfer-Familien eingeschlichen

Seit vier Jahren kannten sich die beiden Pädokriminellen. Dabei soll Marcus R. in dem Chat den Ton angegeben haben und eigens nach Berlin gereist sein, um sich an einem behinderten Schützling seines Komplizen zu vergehen. So steht es in Vermerken der Polizei.

Als sein Berliner Freund im August 2021 nach einem anonymen Hinweis verhaftet wurde, führte eine Spur zu Marcus R. nach Wermelskirchen. Vier Monate später stürmte ein Spezialeinsatzkommando der Polizei sein Haus während dieser mittels Rechner eine Videokonferenz mit Kollegen seines Arbeitgebers führte. Folglich konnte der Tatverdächtige den PC nicht mehr rechtzeitig abschalten, um ihn zu verschlüsseln.

Missbrauch auf 3,5 Millionen Bilder und 1,5 Millionen Videos

Auf seinen Computern stießen die Beamten der Besonderen Aufbauorganisation „Liste“ auf eine Sammlung menschlicher Abgründe. Die Ermittler entdeckten nach eigenen Angaben gut 3,5 Millionen Bilder und 1,5 Millionen Videos sexuellen Missbrauchs an Jugendlichen, Kindern und Babys in „nicht vorstellbarer Brutalität“. Allein die Sicherung der auf 232 Datenträgern befindlichen Dateien dauerte 17 Tage.

Nach und nach stellte sich heraus, dass Marcus R. die Schlüsselfigur in einem großen Netzwerk Pädokrimineller spielte, das bis nach Österreich reichte. Zahlreiche Dateien belegen, wie der Beschuldigte sich über Jahre hinweg selbst an Kindern verging. Im Darknet und über andere Messengerkanäle soll er in Eins-zu-Eins-Gesprächsforen entsprechende Videos und Bilder ausgetauscht haben. Nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ soll er gar mit Chatpartnern unter anderem über einen Erstickungstod von kleinen Jungen und Mädchen gesprochen haben.

Der Fall hat bundesweites Entsetzen ausgelöst. Das Verfahren führte in eine digitale Schattenwelt, in der ein Kinderleben nichts gilt. Zumal das Darknet, geheime Messenger-Dienste und soziale Netzwerke nach Ansicht der Experten den Zugang zu Kinderporno-Material zusehends erleichtern. Inzwischen ermitteln die Strafverfolger allein in dem Wermelskirchener Komplex gegen 80 Beschuldigte.

Ermittlungen gegen 80 Komplizen

Am kommenden Dienstag beginnt gegen Marcus R., 45, der Prozess vor dem Landgericht Köln. Die Anklage legt ihm insgesamt 124 Taten zur Last. Tatsächlich aber könnte das nur die Spitze des Eisberges sein. In 99 Fällen geht es um den sexuellen Missbrauch von Kindern, berichtete Landgerichtssprecher Jan Orth. Von neun der insgesamt 23 identifizierten Opfern soll der Angeklagte kinderpornografische Aufnahmen gemacht haben. Das Alter der Kinder reichte von elf Monaten bis 13 Jahren. In 15 weiteren Fällen geht es um Vorwürfe der Beihilfe zu „erheblichen Missbrauchstaten anderer Personen".

So etwa bei R‘s Bekannten aus Berlin. In den Chats, meist geführt über den kryptierten Messengerdienst qTox, agierten der Wermelskirchener und sein Freund unter Alias-Kürzeln. Kennengelernt hatten sich die beiden auf einer Windel-Fetisch-Party. Die Konversation begann im Herbst 2017: Zunächst schickte der Berliner seinem Kumpel Missbrauchsbilder. Marcus R. reichte das nicht: „Wieso machst Du nicht ein Video?“ Antwort: „Ich traue mich nicht, wenn das Kind was sagt?“. Daraufhin erwiderte R.: „Was soll es sagen? Du magst Videos doch auch lieber als Fotos.“ Der Berliner wollte noch einmal darüber nachdenken, zugleich fragte er nach, welches der Opfer sein Partner aus Wermelskirchen denn gerne hätte? Dem Angesprochenen war es einerlei.

Filme mit schwerbehinderten Kindern

Also schlug Sönke G. einen seiner Betreuungsfälle vor. Der schwerbehinderte sechsjährige Junge musste Windeln tragen und konnte nicht sprechen. Anfangs plagten den Berliner noch Gewissensbisse: „Ok, wäre das wohl nicht.“ Marcus R. wischte die Bedenken weg: „Die Moral zählt nicht, es weiß ja keiner“. Trotz aller Geheimhaltung und dem verschlüsselten Chat-Transfer der Missbrauchsdateien, kam das Verbrechen dennoch heraus.

Fast 15 Jahre lang bediente sich R. laut Anklage folgender Masche: Über Online-Plattformen diente er sich als Babysitter an. Auf diese Weise erschlich er sich das Vertrauen der Eltern. Kaum alleine mit den Kindern soll er über sie hergefallen und dies auch noch gefilmt haben. „Seine Gewaltfantasien überstiegen jegliches Maß aller Vorstellungen“, berichtete ein Ermittler. „Die Schmerzen und Schreie und die Angst dieser kleinen Kinder kann man sich nicht vorstellen“, ergänzte der Kölner Polizeipräsident Frank Schnabel.

Beschuldigter will umfassendes Geständnis ablegen

Sein Verteidiger Christian Lange weiß um die Schwere der Vorwürfe und die erdrückende Beweislage. Bereits im Ermittlungsverfahren habe sein Mandant tagelang ausgesagt und dabei geholfen, etliche andere pädokriminelle Chatpartner zu fassen. „Auch in der Hauptverhandlung wird mein Mandant ein umfassendes Geständnis ablegen ", sagte Christian Lange. Der Angeklagte wolle nach Angaben seines Anwalts helfen, „so viel wie möglich aufzuklären“. Lange gibt sich keinen Illusionen über ein hohes Strafmaß hin. Schließlich ist auch der Berliner Komplize bereits zu zwölf Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden. Das heißt: Ihm droht lebenslanges Gefängnis.

Ein ähnliches Schicksal erwartet nun auch Marcus R.. Zumal das vorläufige Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen dem Angeklagten volle Schuldfähigkeit bescheinigt. Deshalb verfolgt sein Verteidiger in erster Linie das Minimalziel, die Sicherungsverwahrung für seinen Mandanten zu verhindern.

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