Denkmalsturz und KirchenzertrümmerungMissbrauchsstudie ändert das Bild Kardinal Lehmanns eklatant

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Kardinal Karl Lehmann im Juni 2014 bei einer Buchpräsentation. (Archiv)

Kardinal Karl Lehmann im Juni 2014 bei einer Buchpräsentation. (Archiv)

Die Mainzer Missbrauchsstudie ist für alle eine quälende Lektüre, die in Lehmann früher den herausragenden Theologen und Kirchenführer sahen. Früher als großer Menschenfreund geschätzt, hat sich das Bild nun eklatant geändert.

Scharfer Verstand und großes Herz.“ So ist der Nachruf auf Kardinal Karl Lehmann überschrieben, der am 12. März 2018 im „Kölner Stadt-Anzeiger“ erschien. Der Verfasser: Joachim Frank.

Fast genau fünf Jahre später kommt ans Licht: Das Herz des früheren Mainzer Bischofs war ein Schrumpforgan, wenn er es mit Opfern sexualisierter Gewalt zu tun bekam. Und seinen Verstand, der sonst – wie es im Nachruf weiter hieß – getrieben war von den „Fragen und Nöten, die das Leben der Menschen an ihn herantrug“ – diesen Verstand setzte Lehmann erbarmungslos ein, um den Skandal des Missbrauchs herunterzureden, die Geschehnisse zu verschleiern und das ihm bekannte Ausmaß auf unverfrorene Weise zu leugnen.

„Warum soll ich mir den Schuh der Amerikaner anziehen, wenn er mir nicht passt?“

All das ist bis in kleinste Details der Missbrauchsstudie zu entnehmen, die der Regensburger Rechtsanwalt Ulrich Weber im Auftrag des Bistums Mainz erstellt hat. 2002 sprach Lehmann im „Spiegel“ von „vielleicht drei oder vier“ Missbrauchsfällen in seiner damals 19-jährigen Amtszeit als Bischof, und mit Blick auf den flächendeckenden Missbrauch in den USA stellte er die rhetorische Frage: „Warum soll ich mir den Schuh der Amerikaner anziehen, wenn er mir nicht passt?“ Die Studie zeigt nun auf, dass das Bistum Mainz zu dieser Zeit mit 45 Beschuldigten befasst war.

Webers Studie ist für alle eine quälende Lektüre, die Lehmann als herausragenden Theologen und Kirchenführer anerkannt, vielleicht sogar bewundert haben. „Eine ernsthafte Sorge um Betroffene ist in der gesamten Bischofszeit Lehmann nicht zu erkennen“, hält Weber fest – in eklatantem Widerspruch zur öffentlichen Selbstdarstellung Lehmanns, der 2010 in einem Rundbrief an sein Bistum schrieb: „Zuerst aber gehört jetzt unsere erste und vordringliche Sorge den Opfern.“ Die Studie zitiert demgegenüber aus Briefen Lehmanns an Betroffene, deren Kälte einem das Herz gefrieren, den Verstand aussetzen lässt.

Institutionelle Verantwortung der Kirche zeitlebens von sich gewiesen

„Ich erschrecke, wenn ich davon lese, dass ein Bischof, der immer wieder ein menschenfreundliches Gesicht gezeigt hat, in der Begegnung mit Betroffenen sexualisierter Gewalt eine unglaubliche Härte und Abweisung zeigt“, sagte auch Lehmanns Nachfolger Peter Kohlgraf in Mainz zu Webers Gutachten. Kohlgraf stellte zudem heraus, dass Lehmann zeitlebens eine institutionelle Verantwortung der Kirche im Missbrauchsskandal von sich wies. Für den von Kohlgraf prononciert gebrauchten Begriff „systemisches Versagen“ hätte er sich von seinem Vorgänger wohl einen erbosten Rüffel eingefangen.

Lehmanns früherer Sekretär Udo Bentz, heute Generalvikar und Weihbischof, stellte aus langjähriger Weggefährtenschaft die Frage, die auch mich umtreibt: Wie geht all das zusammen? Die Herzlichkeit Lehmanns, die Intellektualität, die Wachheit für Missstände in seiner Kirche – und die Abgestumpftheit im Umgang mit dem Missbrauch.

Bentz bekannte, sein Bild von Lehmann sei zerbrochen. „Ich habe das Gefühl, als hätte ich nur noch Splitter der Wirklichkeit in den Händen.“ Auch das könnte ich von mir selbst sagen, und viele Reaktionen von Gläubigen, aus der Theologie, aber auch aus Politik und Gesellschaft klingen ganz ähnlich. Von einem Denkmalsturz ist die Rede und vom Gefühl, eine einst gehegte Hochachtung heute befleckt, kontaminiert zu sehen.

Theologin Julia Knop: Gläubige erleben Verlust von Vertrauen als Verrat

Dass darin für die Kirche ein weitaus gravierenderes Problem steckt als bloße persönliche Enttäuschung, hat die Erfurter Theologin Julia Knop kurz vor dem Erscheinen der Mainzer Studie in einem maßstabsetzenden Essay dargelegt. Gläubige erlebten den Verlust von gefühlter Verbundenheit und Vertrauen „wie Verrat am eigenen Glauben“. Ihnen gehe „nicht nur etwas Äußeres verloren, sondern etwas zutiefst Eigenes, das sie stark geprägt hat und sich nun als vergiftet erweist“, schreibt Knop in der Zeitschrift „Herder-Korrespondenz“.

Mit einem Wechsel in die Ich-Form unterstreicht sie die existenzielle Dringlichkeit des Befunds, was es bedeutet, wenn prägende geistliche Gestalten sich als Missbrauchstäter erweisen oder eben, wie in Lehmanns Fall, als Vertuscher und seelenlose Apparatschiks: „Ich wäre ohne diesen Menschen nicht die, die ich heute bin. Das legt man weder durch Konversion noch durch Kirchenaustritt ab.“

Stochern im Scherbenhaufen zerbrochener Bilder- und Persönlichkeitsbilder

Also tut man gut daran, sich die „Splitter“ zerbrochener Kirchen- und Persönlichkeitsbilder, auch der eigenen, noch einmal vorzunehmen. Das Stochern im Scherbenhaufen fördert etwas nur auf den ersten Blick Erstaunliches zutage: Theologisch und kirchenpolitisch so weit voneinander entfernte Bischöfe wie Lehmann und der frühere Kölner Kardinal Joachim Meisner, zu ihrer Zeit die Antipoden im deutschen Katholizismus – mit ihrem Hinweggehen über die Betroffenen,  ihren Lügen und ihrer Blindheit für das himmelschreiende Unrecht des Missbrauchs kommen sie sich jetzt auf einmal sehr, sehr nahe.

Die verstörende Gemeinsamkeit eines Kardinal „Nichts geahnt“ Meisner und eines Kardinal „Unbeschuht“ Lehmann lässt nur einen Schluss zu: Am Ende ging es beiden, dem Erzkonservativen wie dem Liberalen, zuerst und vor allem um den Schutz der Institution Kirche und um den Zusammenhalt im Klerikerstand.

Beiden war die Solidarität mit den „Brüdern im Nebel“ (Meisner) wichtiger als alles andere. Auf die Opfer sahen sie als Wichtigtuer, Verleumder, Trittbrettfahrer herunter. Eine solche unmenschliche „déformation professionelle“ muss ein Ende haben. Das klerikale, männerbündische Kirchengefüge  mit seiner „Spiritualisierung eines absolutistischen Machtgefüges“ (Julia Knop) muss in Trümmer geschlagen werden.

Synodaler Weg: Abschluss am Wochenende

„Eine solche Kirche will ich nicht mehr“, hat Bischof Kohlgraf in Mainz gesagt und von seinem Willen gesprochen, eine „andere Kirche“ zu gestalten.

Auch der „Synodale Weg“ der katholischen Kirche in Deutschland hat sich diesem Ziel verschrieben. Ob in der Abschlussversammlung an diesem Wochenende in Frankfurt zumindest Ansätze des von Kohlgraf beschworenen Kulturwandels gelingen? Ob aus den Ruinen einer Kirche, in der so viele Menschen - auch ich – den Glauben gelernt und Gemeinschaft erfahren haben, ein neuer geistlicher Raum entstehen kann? Wer weiß das schon? Ich nicht.

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