„Ich dachte jedes Mal: Du spinnst“Frau wird von Serientäter vergewaltigt – Behörden klären sie erst Jahre später auf

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Emma Pollmann blickt auf eine Wiese. Das Foto ist von hinten aufgenommen, man sieht nur ihre langen, rotbraune Haare.

Emma Pollmann, die eigentlich anders heißt, wurde von dem Serientäter Philipp G. vergewaltigt - und wusste jahrelang nichts davon.

2020 finden die Ermittler auf der Festplatte des Serientäters Philipp G. ein Video, das zeigt, wie Emma Pollmann bewusstlos vergewaltigt wird. Erst zwei Jahre später informieren die Behörden sie darüber.

Emma Pollmann hat nur eine einzige Erinnerung an Philipp G. Ein verschwommenes Bild, das sie jahrelang für ein Hirngespinst gehalten hat. Es zeigt sie auf dem Sofa, über ihr der unscharfe Umriss eines Männeroberkörpers. Seit fünf Jahren jagt dieses Bild durch ihren Kopf, wenn sie sich in intimen Momenten mit einem Mann unwohl fühlt. Wie ein Schaudern, sagt Pollmann, die eigentlich anders heißt. „Ich dachte jedes Mal: Du spinnst, du vermischst hier etwas zu einer Situation, die es nie gab.“ Bis ihr eine Polizistin sagt, dass sie auf ebendiesem Sofa vergewaltigt wurde.

Emma Pollmann will sich nicht als Opfer fühlen. Nicht in diese Hilflosigkeit hineinrutschen. Und hilflos, so klingt sie wirklich nicht. Pollmann, 25 Jahre alt, Leipzigerin, spricht klar und überlegt mit fester Stimme. Ohne Verzweiflung, dafür mit Wut: Auf Philipp G., auf seine Vorgesetzten im Bielefelder Klinikum, die G. trotz seines auffälligen Verhaltens weiter arbeiten ließen. Auf die Ermittlungsbehörden, die Emma Pollmann über zwei Jahre lang im Unwissen ließen.

Staatsanwaltschaften informierten Frauen nicht über Vergewaltigung

Im September 2020 verhaftete die Bielefelder Polizei den Assistenzarzt Philipp G., der dutzende Frauen betäubt, gefilmt und vergewaltigt hatte. Zwei Tage später nahm er sich in Untersuchungshaft das Leben. 32 Frauen waren Patientinnen im Bielefelder Klinikum Bethel, als die Taten geschahen – G.s Arbeitgeber. Mindestens neun missbrauchte er außerhalb des Krankenhauses.

Nach G.s Tod stellte die Staatsanwaltschaft Bielefeld das Verfahren gegen G.s Vorgesetzte ein. Sie informierte die Frauen nicht über die Verbrechen, die ihnen widerfuhren. Erst als das Justizministerium den Fall an die Staatsanwaltschaft Duisburg übertrug, schickte diese Polizisten zu den Frauen, die im Klinikum Opfer wurden.

Frauen wie Emma Pollmann sagte auch die Staatsanwaltschaft Duisburg über ein Jahr lang nichts. Nichts von den Geschlechtskrankheiten von G., nichts von den Vergewaltigungsvideos, die die Ermittler auf G.s Festplatte fanden, nichts von der Liste von zum Teil missbrauchten Frauen, die G. geführt hatte. Erst nachdem der „Kölner Stadt-Anzeiger“ gemeinsam mit dem ARD-Politmagazin „Kontraste“ über Opfer außerhalb der Klinik berichtete, holte Duisburg das Versäumte nach und informierte die zahlreichen Frauen, die außerhalb des Klinikums missbraucht wurden.

Kennen Sie Philipp G.?

Als Emma Pollmann am 27. Oktober 2022 den Brief der Staatsanwaltschaft Duisburg aus ihrem Briefkasten holt, glaubt sie noch an eine Verwechslung; Duisburg – mit dieser Stadt, ja mit dem ganzen Bundesland, hat sie doch nichts zu tun. Das denkt sie auch noch, als sie wie im Brief gefordert bei der Polizei Leipzig anruft und die Kriminalpolizistin sie auf die Wache bittet. „Ich dachte, das ist eine Sache von zehn Minuten“, sagt Pollmann. „Ich gehe auf die Wache, sage ‚ich weiß von nichts‘ und gehe wieder.“ Dann verbringt sie eineinhalb Stunden dort.

Pollmann setzt sich, die Polizistin legt zwei Porträtfotos vor ihr auf den Tisch, frontal und von der Seite. Kennen Sie Philipp G.? Nein, sagt Pollmann, nie gesehen, nie von ihm gehört. Die Beamtin schiebt ihr drei weitere Fotos hin. Standbilder aus einem Video, die Ausschnitte einer Wohnung zeigen. Pollmanns frühere Wohnung. Sie starrt auf die Bilder, während ihr die Beamtin von den Videos erzählt, die Philipp G. von der Vergewaltigung gemacht hat. Hört die Wörter, ohne sie zu begreifen. Es habe lange gedauert, die Dateien zu entschlüsseln, sagt die Polizistin. Deshalb sei sie nicht früher informiert worden. Noch drei Fotos. Diesmal von G. aufgenommen. Pollmanns Führerschein. Ihr Personalausweis. Ihr Gesicht, bewusstlos, im Profil. Jetzt ergibt es doch Sinn, dieses Bild von dem Mann mit dem nackten Oberkörper, denkt Pollmann.

„Es fühlt sich an wie ein schlechter Krimi“

Bis heute weiß Pollmann nicht, wie sie Philipp G. kennengelernt hat. Wie er sie betäubte, wie er in ihre Wohnung gelangt ist. Das Video datierte G. auf April 2017, so viel hat ihr die Polizei gesagt. Und, dass sie im Video immer wieder halb zu Bewusstsein kommt und direkt wieder ohnmächtig wird. Mehr Details wollte Pollmann nicht wissen. „Es fühlt sich an wie ein schlechter Krimi, weil ich – bis auf diese Flashbacks – wirklich keine Erinnerungen daran habe“, sagt Emma Pollmann.

Damals, als 20-Jährige, ging sie gerne und viel feiern, sagt sie. Ab und zu trank sie früher zu viel und hatte am nächsten Morgen Erinnerungslücken. Heute vermutet sie, dass sie Philipp G. in einer Bar kennenlernte, er ihr etwas ins Getränk mischte und sie nach Hause brachte, um sich dort an ihr zu vergehen. Ein Zufallsopfer. 

An was sich Pollmann aber erinnert: Um 2017 herum änderte sie ihr Verhalten. Es gab einen Wendepunkt, den sie nie richtig benennen konnte. Ab dem sie keine Beziehungen mehr eingehen konnte, ab dem ihr Situationen mit zu viel körperlicher Nähe unangenehm wurden. Und in denen sie sich trotzdem nicht traute, Nein zu sagen.

Emma Pollmann erstattet Anzeige

Um 17 Uhr verlässt Pollmann das Revier, schreibt ihrer besten Freundin, die sofort zu ihr nach Hause kommt. Am Abend, als sie wieder alleine in ihrer Wohnung ist, sucht Pollmann im Internet nach Philipp G.. Bis fünf Uhr morgens liest sie Artikel, guckt Reportagen, schreibt chronologisch mit, wann welcher Verdachte gegen Philipp G. geäußert wurden, wann die Staatsanwaltschaft die ersten Frauen informierte. Und sie wird sauer, als sie erkennt, dass die Dateien, auf denen ihre Vergewaltigung gespeichert ist, den Ermittlungsbehörden seit September 2020 entschlüsselt vorlagen. Sie mussten die Dateien ja auch entschlüsseln, um zu prüfen, ob die Tat im Klinikum Bethel geschah, sagt Pollmann.

Die Staatsanwaltschaft Duisburg rechtfertigte sich im Oktober dieses Jahres damit, die Identifikation der Opfer im privaten Bereich sei meist deutlich schwieriger als bei Betroffenen im Krankenhaus – schließlich sei hier kein Abgleich mit Krankenhausakten möglich. „Bei mir war alles da. Sie hatten die Videos, die Fotos von meinem Personalausweis und von meinem Führerschein. Einfacher kann man es doch nicht haben.“

Sie erstattete Anzeige gegen die Staatsanwaltschaft Bielefeld, die kurz nach G.s Tod die Entscheidung traf, kein Opfer zu informieren. Der größte Fehler, sagt sie, sei jedoch bereits 2016 geschehen, als das erste Verfahren gegen Philipp G. eingestellt wurde. „Alles danach hätte man verhindern können.“ Eine Patientin seines früheren Krankenhauses zeigte den Assistenzarzt damals wegen sexueller Nötigung an: G. solle sie durch eine Infusion betäubt und anschließend missbraucht haben. Aus Mangel an Beweisen wurde das Verfahren eingestellt. Inzwischen gehen die Ermittlungsbehörden davon aus, dass auch diese Frau Opfer einer Straftat geworden ist.

Die Staatsanwaltschaft schrieb auf Anfrage, in den Dateien von G. haben sich die Ausweisdokumente von zwei Frauen befunden. Auf die Frage, wieso Pollmann nicht schon früher informiert wurde, antworteten die Ermittler, die Problematik liege „nicht allein bei der Identifikation der Opfer“ sondern auch in Frage, ob eine Sexualstraftat vorliege. Die Videosequenzen seien häufig nur sehr kurz gewesen. „Die Abgrenzung, ob insoweit einvernehmlicher Geschlechtsverkehr vorliegt oder nicht, bedarf einer genauen Überprüfung und ist oftmals nicht eindeutig zu treffen“, so die Staatsanwaltschaft. „Im Rahmen der Entscheidung, dass sämtliche Sexualpartner informiert werden sollen, wurde Frau Pollmann sodann informiert.“ Diese Entscheidung fiel Mitte Oktober 2022 – wenige Tage nach der Berichterstattung von „Kontraste“ und „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Pollmann reicht diese Begründung nicht aus. Die Polizei habe ihr bestätigt, dass sie auf dem Video „ständig weggetreten“ sei. „Wer entscheidet hier, was einvernehmlich war und was nicht?“ Sie wünsche sich, die Staatsanwaltschaft hätte sie früher informiert, sagt Pollmann. Alleine wegen der Geschlechtskrankheiten von Philipp G., auch wenn ein Test bei ihr keine Auffälligkeiten zeigte. „Es hätte anders laufen müssen“, sagt sie. „Dieses Vorenthalten von Informationen empfinde ich als Bevormundung. Ich dachte echt, wir wären aus diesem Zeitalter raus.“

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