Eine Ärztin berichtet, wie sie vergeblich um das Leben eines Jungen kämpfte. Die Mutter sagt, wie sie seinen Tod erlebte. Ein Ex-Soldat erzählt, wie er sich seitdem nicht mehr über die Straße traut. Im Prozess von Magdeburg schildern Helfer und Opfer den Anschlag aus ihrer Sicht – auch um dem Täter die Bühne zu nehmen.
„Er lag da, blutüberströmt“Opfer von Magdeburg schildern im Prozess, wie sie den Anschlag erlebt haben

„Die Bilder kriegt man nie wieder aus dem Kopf“: Ein Gedenkort in der Magdeburger Innenstadt erinnert kurz nach dem Anschlag an die Opfer. . /-Pressefoto/Lars Neumann
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Alle haben das Geräusch gehört. Aber jeder hat einen anderen Vergleich, um es zu beschreiben.
„Für mich hat es sich angehört wie ein dumpfes Maschinengewehr“, sagt Maren H. (alle Namen geändert), eine Kinderkrankenschwester, 45 Jahre, die im Chaos an diesem Abend ein achtjähriges Mädchen mit einer Kopfverletzung fand, ihm Infusionen legte und an seiner Seite blieb, bis die Eltern es fanden.
„Als würde jemand reihenweise Mülltonnen umwerfen“, sagt Aylin T., eine 30-jährige Doktorandin, die sich in einem Glühweinstand verstecken wird, aus Angst, es könnten noch weitere Täter kommen.
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„Es war ein Geräusch wie eine Sturmböe, die urplötzlich aufkam“, sagt Cornelia M., eine 55-jährige Anästhesistin, die erst gegen einen Grünkohlstand gedrückt wird und dann, nachdem sie sich aus dem Gedränge befreit hat, einen neunjährigen Jungen zu reanimieren versucht, dem das Blut aus Mund und Nase sprudelte.
Schüsse, Schläge, Tonnen
„Es klang, als würde man mit Fäusten auf einen Pappkarton schlagen“, so beschreibt es Sylke T., die sich doch kurz zuvor noch über den „besten Glühwein aller Zeiten“ freute, den sie mit ihren drei Schulfreundinnen gerade trank.
Schüsse, Schläge, Sturm, stürzende Tonnen: Die Vergleiche können nur Annäherungen sein an das, was die Menschen wirklich hörten, die am Abend des 20. Dezember 2024 auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt waren. Und doch sind sie nötig, weil zum Glück sonst niemand weiß, wie es klingt, wenn ein tonnenschwerer SUV in voller Fahrt auf menschliche Körper trifft. Sondern nur die, die es erlebt haben. Und die jetzt in diesem Gerichtssaal sitzen, nur wenige Meter von dem Mann entfernt, der dieses Fahrzeug steuerte, und davon erzählen, wie sie diesen Abend erlebt haben.
Und welche Folgen er bis heute für ihr Leben hat.
Tagelang reden jetzt die Opfer, die Hinterbliebenen, die Helfer. Auch wenn sie es gar nicht müssten. Sondern weil sie es wollen.
Seit einem Monat läuft der Prozess gegen Taleb A. nun, der den BMW X3 an jenem Abend in die Menschenmenge lenkte. Ein 51-jähriger Mann mit Zauselbart und langem Haar, in einem Kasten aus Sicherheitsglas, bewacht von Justizbeamten mit Sturmmasken, gefesselt an Händen und Füßen. Von Angela Merkel und Voltaire sprach er da, immer wieder ging es um saudische Frauen, den Islam, seinen Ärger mit deutschen Ämtern, dazu hielt er rätselhafte Botschaften in die Kameras, „September 2026″, und so weiter. Er könne noch monatelang reden, sagte er.
Was nicht nur die Opfer als Drohung verstanden.
Die Vernehmungen der Zeugen jenes Abends umfassen 2800 Seiten. Das Gericht hat verfügt, dass alle Prozessbeteiligten sie lesen sollen. Aus Rücksicht, damit die Opfer nicht aussagen müssen.
2800 Seiten Aussagen
„Aber wer liest denn schon 2800 Seiten?“, fragt die 36-jährige Nicole T., die an jenem Abend so viele Verletzungen erlitt, dass einer der Richter nachfragen muss, weil er sich im ersten Anlauf nicht alle Diagnosen notieren konnte. „Oberschenkelbruch, Trümmerbruch des linken Beckenrings, Lendenwirbelbruch … und weiter?“ - Schambeinbruch, tauber Ringfinger, antwortet sie. Und dass das Becken so verschoben ist, dass sie auf normalem Weg keine Kinder zur Welt bringen kann.
„Ich war anfangs so erfreut, dass wir nicht aussagen müssen“, sagt Regine R., Lehrerin, 50 Jahre alt, der Taleb A. mit dieser Fahrt beide Beine brach, so schwer, dass sie bis heute nicht arbeiten kann. „Aber dann, als ich ihn hier reden hörte und die Berichte las, fing es in mir an zu brodeln. Da geriet etwas in Schieflage.“
„Ich bin wütend auf den Angeklagten, der hier irgendwas von Voltaire erzählt“, sagt Christoph D., 57 Jahre alt, Schulleiter, der an jenem Abend mit seinen beiden Kindern auf dem Weihnachtsmarkt war, und wendet sich direkt an Taleb A. in seinem Glaskasten. „Das, was Sie hier vorbringen, ist alles kein Grund, in dem Land, das Sie aufgenommen hat, jemanden zu verletzen.“
Ob er heute in Therapie sei, fragt ihn der Vorsitzende Richter Dirk Sternberg noch. Nein, antwortet D. da. „Die Treffen mit anderen Betroffenen und dieser Prozess hier“, sagt er, „das ist für mich Therapie.“
Rund 20 Verletzte und Hinterbliebene haben an den vergangenen vier Prozesstagen ausgesagt. Weitere werden folgen, bis ins nächste Jahr hinein, andere überlegen noch. Was sie berichten, ähnelt sich. Und zugleich ist jede Geschichte vollkommen anders.
„Gegen die Bude geflogen“
Da ist zunächst der Schrecken, der um 19.01 Uhr in diesen Weihnachtsmarktabend einbricht.
Da ist zum Beispiel Susanne K., 34 Jahre alt, Kinderpflegerin, die mit ihrer Familie auf dem Markt war. Am Schmalzkuchenstand stand sie, noch gelassen nach der Geburt ihres zweiten Kindes, gerade zwölf Tage alt, das vor ihr im Kinderwagen liegt - als sie plötzlich den Wagen an sich vorbeifahren sieht.
„Ich wusste sofort, dass es ein Anschlag ist“, sagt sie. „Und ich war sicher, dass mein Freund und mein Sohn jetzt tot sind.“
„Ich wusste sofort, dass es ein Anschlag ist“
„Und ich dachte noch: Wie kann man nur am Freitagabend um 19 Uhr die Buden beliefern“, sagte sich Regine R., die Lehrerin. Da trifft das Auto sie auch schon und hätte sie auch zur Seite geschleudert, „wenn es nicht gleichzeitig über meine Füße gefahren wäre“.
Und Susanne S., 40 Jahre, die das Fahrzeug wie aus dem Nichts trifft: „Ich bin gegen eine Bude geflogen“, berichtet sie, und die dann, mit schmerzenden Beinen, ihre Kinder sucht und ihre Mutter sieht, wie sie auf dem Boden liegt. „Mutti, du musst immer schön weiteratmen“, sagt sie noch. „Das waren meine letzten Worte an sie.“
Als das Auto vorbei ist, so beschreiben es die meisten, gibt es einen Moment der Stille. Und dann, so erinnern sie sich, folgen die Schreie. Und das Rufen derjenigen, die ihre Liebsten suchen.
Désirée G. ist 39 Jahre alt, auf dem Weg in den Gerichtssaal drückt sie einen Stoffhund fest an sich. Eine Sichtschutzwand wird eilig aufgebaut, damit sie den Angeklagten nicht ansehen muss. Anfangs spricht sie mit so schwacher Stimme, dass sie trotz Mikrofon kaum zu verstehen ist.
Sie habe André, ihren neunjährigen Sohn, mit seinem elf Jahre älteren Bruder alleine über den Markt gehen lassen. Sie stand beim Riesenrad, als plötzlich eine Frau rief, das Karussell müsse anhalten, ein Auto sei über den Markt gerast. Désirée G. läuft los, „irgendwann habe ich die Namen der Kinder geschrien“, bis sie am Burger-Stand ihren älteren Sohn sieht – und dann auch André.
„Er lag da, blutüberströmt. Die Bilder kriegt man nie wieder los.“
Reanimation zwischen Buden
Einen Tag zuvor saß im Gericht Cornelia M. auf demselben Stuhl, die Anästhesistin, die an diesem Abend mit Kollegen auf dem Weihnachtsmarkt war. Und die da versuchte, den Jungen zwischen zwei Buden zu reanimieren, zusammen mit einem Kinderintensivmediziner, der ebenfalls zufällig auf dem Weihnachtsmarkt war. Nur musste sie bald einsehen, dass sie keine Chance hatten.
„Nach zehn, 15 Minuten haben wir gesehen, dass... der Kleine... nicht mehr... lebt“, sagt sie stockend.
„Aber wir beide“, der andere Arzt und sie, „haben es nicht geschafft, den Kleinen für tot zu erklären.“ Das hätten sie nicht gekonnt, nicht in der Kälte, in dem Dreck. Also bestehen sie darauf, dass sie mit ihm in die Klinik gefahren werden. Wo die Kollegen sie nur anherrschen: „Das Kind ist doch tot.“ „Ja, das wissen wir auch“, entgegnen sie nur.
Draußen, vor der Tür, steht dann schon der Stiefvater des Jungen. Der fragt, ob er es geschafft hat. Und dem sie dann die Wahrheit sagen muss. „Ich bin seit fast 30 Jahren in der Anästhesie, seit 25 Jahren im Rettungsdienst“, sagt die Ärztin im Gericht. „Ich dachte, ich hätte schon alles gesehen. Aber damit rechnet man nicht: Dass man auf einem Weihnachtsmarkt eine Handbreit neben einem Auto stand, das einen umbringen will.“
Fortgezogen aus Magdeburg
Und die Folgen? Auch hier gibt es Dinge, die bei fast allen gleich sind, die in diesen Tagen auf dem Zeugenstuhl sitzen. Die Schuldgefühle, ob man wirklich alles getan hat, den anderen zu helfen. Die Gereiztheit bei kleinsten Anlässen. Die Angst, wenn die Scheinwerfer eines Autos auf einen zukommen. Und es hat erstaunlich wenig damit zu tun, wie schwer jemand körperlich verletzt wurde.
Uwe K. ist Ende 40, selbstständig, er hatte Kunden eingeladen, mit ihm über den Weihnachtsmarkt zu gehen. Bei dem Anschlag riss ihm ein Trümmerteil die Kopfhaut weg, 30 Klammern waren nötig, um sie wieder zu fixieren.
„Ich war in den Neunzigerjahren Jäger und Scharfschütze bei der Bundeswehr in Hammelburg. Wir hatten Schulungen gegen posttraumatische Belastungsstörung. Ich habe immer gedacht, ich schaffe das schon alleine. Aber jetzt wurden mir die Augen geöffnet.“
Uwe K. ist weggezogen aus Magdeburg. „Weil ich hier nicht mehr über die Straße gehen konnte.“ Nachts, im Schlaf, wimmere er, zittere, krampfe. „Dann muss mich meine Frau festhalten.“
Aylin, eine 30-jährige Medizinerin, blieb fast unverletzt. Sie hat anderen geholfen. Und sich ausgemalt, was passierte, wenn der Anschlag nach dem Auto noch nicht vorüber wäre. „Ich dachte, im schlimmsten Fall nimmt man sich eine Flasche, zerschlägt die und wehrt sich. Wir wussten ja nicht, was passiert.“
Auch heute ist nach außen hin alles intakt. Sie schreibt weiter an ihrer Doktorarbeit. Nur im Inneren ist wenig wie zuvor. „Seit letztem Dezember ist dies das erste Mal, dass irgendeine Emotion bei mir rauskommt“, sagt sie unter Tränen. „Ich habe mir solche Mauern gebaut.“
Taleb A. hört sich das alles ohne erkennbare Regung an. Am ersten Tag hebt er mehrmals den Arm. Aber als er nach dem „Verständnis für sein Motiv“ fragen will, oder als er von einem Pfleger erzählt, der ihn gefragt habe, ob er Schweinefleisch esse, nimmt ihm der Vorsitzende Richter Dirk Sternberg das Wort. Später, als die Mutter des toten Jungen redet, verbirgt er sein Gesicht in der Ellenbeuge.
Sie habe zu ihm hinübergesehen, sagt Regine R., die Lehrerin, später, am Ausgang der Nebenkläger, nach ihrer Aussage. Aber da sei nichts gewesen, keine Reaktion, als würde er durch sie hindurchsehen. Während sie sprach, war ihre Stimme immer sicherer geworden, ihre Haltung aufrechter, als wachse sie auf ihrem Platz.
Jetzt sei sie zufrieden mit ihrem Entschluss. „Wir haben ihm“, sagt sie, „die Bühne genommen.“

