Schön, günstig, lebendigWest-Rentner zieht es nach Görlitz

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Altstadt Görlitz

Die Altstadt von Görlitz

Görlitz – „Nein“, sagt Rainer Michel, wenn man ihn fragt, ob es Momente gab, in denen er den Umzug vom Rheinland an die polnische Grenze bereut habe. „Keine Sekunde.“

Michel ist 73 Jahre alt, sieht deutlich jünger aus, ein großer Kerl mit Graubart, sprüht vor Tatendurst und gehört zu einer kleinen Schar westdeutscher Rentner, die sich gegen die Kanarischen Inseln, Mallorca oder Ibiza entschieden hat, um an einem ganz speziellen Ort alt zu werden: Görlitz.

Immer mehr Rentner ziehen in Deutschland um, hat das Statistische Bundesamt herausgefunden. 2013 waren es 260000, 50000 mehr als 1995. Man wechselt aus den verschiedensten Gründen den Wohnort: zu den Kindern, in eine kleinere Wohnung, an die Costa Brava – oder viele auch nach Ostdeutschland. Weil es dort etwas billiger ist und man umgerechnet mehr von der Rente hat.

Gezielt barrierefrei

Chemnitz, die laut EU-Behörde Eurostat mit einem Viertel über 65-Jährigen den höchsten Seniorenanteil in Europa hat, bereitet sich längst gezielt mit dem Bau von barrierefreien modernen Wohnungen auf immer mehr alte Mitbewohner vor, eigene und Zuzügler.

Görlitz Theater

Das Görlitzer Theater

Görlitz tut das auch, profitiert aber vor allem von seiner Schönheit. „Ich habe diese Stadt lieben gelernt“, erzählt Michel. „Außerdem bin ich ostinifiziert. Es ist wie eine kleine Sucht.“ 1200 gut betuchte Rentner-West sind in den vergangen Jahren in die ostsächsische Stadt an der Neiße gezogen, eine Menge, denn Görlitz hat insgesamt nur 56211 Einwohner.

Vorher lebte der Deutsch- und Englischlehrer mit seiner Frau Anja in Köln, arbeitete als Landeskirchenrat in Düsseldorf bei der rheinischen Landeskirche, ging dann nach Sachsen, um sich um den Aufbau des Religionsunterrichts zu kümmern – und infizierte sich lebenslänglich. „Ich fühle mich sauwohl hier“, sagt er.

Ein Literaturhaus entsteht

Michel steht dabei auf seiner Baustelle, seinem Projekt. Das Haus im Rheinland wurde verkauft, stattdessen nun der halbfertig renovierte Bau am Obermarkt, die alte Synagoge. Nirgendwo in Deutschland würde man ein solches Haus bekommen, sagt er. Ein altes Gesellschaftstheater, Synagoge von 1853 bis 1911, als die Görlitzer Juden in etwas Prächtigeres umzogen. Danach Lagerrraum für Theaterrequisiten und Garage, ab 2002 Leerstand und Verfall. Die Stadt wollte die Ruine nicht haben, niemand wollte sie haben. Dann kamen die Michels. Ein Literaturhaus soll es demnächst werden.

„Für Literatur interessiert man sich hier“, sagt Michel. Vor ein paar Jahren luden die Görlitzer den Schriftstellerverband PEN zu sich in die Stadt, 60 Privatunterkünfte für Autoren waren nötig. „War kein Problem“, sagt Michel. Er steht im Obergeschoss vor der alten Thora-Nische, sie ist frisch renoviert. Geld dazu gab es auch aus dem Topf des geheimnisvollen Spenders, der lange Zeit jährlich und anonym umgerechnet eine Million Mark an die Stadt überwiesen hatte, um die Restaurierung der prachtvollen Altstadt voranzutreiben.

Im Krieg verschont gebliebene Schönheit

Görlitz ist so schön, weil es im Krieg nicht zerstört wurde. Es stehen noch Häuser aus sieben Jahrhunderten um Ober- und Untermarkt, 4000 denkmalgeschützte Gebäude insgesamt. „Görlitz ist eine Kulisse“, sagt Eva Wittig, die Sprecherin der Stadt. Wobei das wörtlich gemeint ist: In der Stadt wurden, weil sie so alt und nicht durch Reklame verschandelt ist, unzählige Filme gedreht, das „Grand Budapest Hotel“, „Die Vermessung der Welt“, „Goethe“, „Inglourious Basterds“, „Der Vorleser“.

Görlitz wächst

Görlitz wachse wieder, erzählt sie. Seit 2014 gehe es wieder bergauf, nachdem jahrzehntelang die Zahlen in den Keller gingen, weil junge Familien wegzogen, nach Westen, der Arbeit hinterher. Nun geht es andersrum – und nicht nur die gut gelaunten Westrentner kommen. Es kommen Junge, um zu studieren, es kommen Polen aus der Nachbarstadt Zgorzelec, die einmal eins war mit Görlitz und nur durch den Grenzfluss Neiße getrennt ist.

hallenhäuser Görlitz

Die sanierten Hallenhäuser am Untermarkt in Görlitz

In Polen ist bezahlbarer Wohnraum knapp, in Görlitz kein Problem. Es gab Jahre mit 20 Prozent Leerstand, darunter prachtvolle Altbauwohnungen mit Kaminen und Stuck.

Der Neugörlitzer Michel genießt das Dasein. Er vermisst Köln nicht sehr. „Ich habe eine gute Rente und lebe in der schönsten Stadt“, sagt er. „Was will ich mehr.“

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