Studie zu MissbrauchBistum Mainz hat sexuelle Gewalt verschwiegen und verharmlost

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Die Rechtsanwälte Ulrich Weber (l) und Johannes Baumeister haben vor Beginn einer Pressekonferenz zu den Ergebnissen einer Studie zu sexuellem Missbrauch im Bistum Mainz Platz genommen.

Eine Studie zeigt, dass es in Mainz mehr Opfer sexuellen Missbrauchs gibt als zunächst gedacht.

Mit scharfen Worten haben die Autoren der Missbrauchsstudie für das Bistum Mainz das Verhalten der katholischen Kirche kritisiert.

Jahrzehntelang sind im Bistum Mainz Fälle von sexueller Gewalt nicht konsequent verfolgt, teils verschwiegen und verharmlost worden – auch zur Zeit des im Bistum und darüber hinaus angesehenen Bischofs Karl Kardinal Lehmann, der lange Jahre Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz war.

Das geht aus einer am Freitag von dem unabhängigen Rechtsanwalt Ulrich Weber in Mainz vorgestellten Studie hervor. „Das Bistum als verantwortliche Institution hat durch unangemessenen Umgang und mangelnde Kontrolle in vielen Fällen sexuellen Missbrauch begünstigt“, sagte Weber. Pfarrgemeinden hätten mit einer Solidarisierung mit Beschuldigten und der Diskreditierung von Opfern eine Aufklärung erschwert und weitere Vorfälle ermöglicht.

Es gab 657 Betroffene sexuellen Missbrauchs innerhalb von 74 Jahren

Im Rahmen der Studie waren rund 25.000 Seiten an Akten- und Archivmaterial untersucht worden und 246 persönliche, schriftliche oder telefonische Gespräche geführt worden. Nach einer statistischen Analyse waren für den Zeitraum von 1945 bis 2019 zunächst 657 Betroffene und 392 Beschuldigte ausgemacht worden. Dann wurde genauer geprüft, wie sich der jeweilige Tatbestand genau darstellt und wie plausibel der Fall erscheint. Letztlich blieben für die weitere Untersuchung 401 Betroffene und 181 Beschuldigte übrig.

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Der vom Bistum beauftragte Regensburger Anwalt Weber hatte bereits im Oktober 2020 einen ersten Zwischenbericht vorgelegt. Schon damals war klar geworden, dass es mehr Beschuldigte und Betroffene sexueller Gewalt gegeben hat als zunächst vermutet – seinerzeit war von 273 Beschuldigten und 422 Betroffenen die Rede gewesen. Damals hatte Bischof Peter Kohlgraf, der seit 2017 im Amt ist, von einem „Blick in den Abgrund“ gesprochen. Zu dem am Freitag vorgestellten Abschlussbericht wollte er sich am Nachmittag in einem ersten Statement äußern.

Eine große Mehrheit der Opfer musste Übergriffe über mehrere Jahre erleiden

Für den 8. März ist dann eine weitere Pressekonferenz des Bistums geplant. Das Bistum Mainz liegt zu etwa zwei Dritteln auf hessischem und zu einem Drittel auf rheinland-pfälzischem Gebiet und zählte zuletzt gut 700.000 Kirchenmitglieder. Laut der Studie sind die Beschuldigten zu 96 Prozent männlich, rund zwei Drittel seien Kleriker, der Rest Laien. Das Tatspektrum erstrecke sich von einer sexualbezogenen Grenzverletzung bis hin zu besonders schweren Straftaten. 61 Prozent der Missbrauchsfälle dauerten der Studie zufolge länger als ein Jahr.

Seien vor 2002 sämtliche Strafanzeigen durch Zeugen oder Betroffenen gestellt worden, sei dies nach 2010 zum überwiegenden Teil durch das Bistum geschehen. Die Folge waren 27 Strafverfahren, acht Haftstrafen wurden verhängt, „davon nur eine für einen Diözesanpriester“. Von den Betroffenen sind rund 60 Prozent männlich, 72 Prozent der Opfer mussten mehrfache Übergriffe erleiden, überwiegend über ein bis zwei Jahre. Die Opfer waren laut Studie von drei bis 62 Jahre alt, ein Schwerpunkt liege im Kommunionalter bei zehn Jahren, ein weiterer bei „postpubertären Jugendlichen“ mit 14 bis 15 Jahren.

Studien-Verfasse hatten scharfe Kritik für die Kardinäle Volk und Lehmann

Die Hälfte der Betroffenen wurde Opfer einer schweren oder besonders schweren Straftat. Schwere und besonders schwere Straftaten seien überwiegend bis Anfang der 1990er Jahre verübt worden. Häufig sei es bei Freizeiten oder Reisen, im privaten Umfeld oder im Pfarrhaus zu Taten gekommen, rund jede vierte Meldung von Betroffenen sei erst mehr als 30 Jahre nach dem Vorfall erfolgt. Oft sei die Beziehung zwischen Beschuldigtem und Betroffenen von Macht und Vertrauen geprägt gewesen. „Pädophilie ist nur bei einem geringen Teil der Beschuldigten Ursache für die Taten“, sagte Weber.

Hart ins Gericht gingen die Verfasser um den vom Bistum beauftragten Regensburger Anwalt unter anderem mit den früheren Mainzer Bischöfen Hermann Kardinal Volk (1962-1982) und Karl Kardinal Lehmann (1983-2017). Die Zeit unter Volk sei ein Schwerpunkt für solche Taten gewesen. Es sei vorrangig darum gegangen, kein öffentliches Ärgernis hervorzurufen. Ein Blick auf das Leid der Betroffenen sei nicht vorhanden gewesen.

Die Kirche hat sexuellen Missbrauch laut Studie auf vielen Ebenen begünstigt

Lehmann habe den Umgang mit Fällen sexueller Gewalt nie als Chefsache angesehen. Es sei in den Lehmann-Jahren 2010 bis 2017 ein erheblicher Gegensatz zwischen seinem öffentlich-medialen Auftreten und der persönlichen Einstellung und dem persönlichen Handeln erkennbar gewesen. „Seinen mit eigenen Worten formulierten Anspruch für den Umgang mit sexueller Gewalt in der katholischen Kirche im Bistum Mainz hat er selbst zu keiner Zeit erfüllt“, sagte Weber. Unter Bischof Kohlgraf sei der Wille, den Umgang mit sexualisierter Gewalt zur Chefsache zu machen, durchaus erkennbar, sagte der Anwalt.

Der Umgang mit Beschuldigten sei sehr konsequent, Vorgaben aus Kirchenrecht und Leitlinien würden stets eingehalten, Entscheidungen gingen im Zweifel zulasten der Beschuldigten. „Erste Schritte der Aufarbeitung sind eingeleitet, denen nach Veröffentlichung dieser Studie weitere folgen müssen“, befinden die Autoren. Sexuellen Missbrauch begünstigt habe die Kirche auf vielen Ebenen. Die Priesterausbildung habe der „psychosexuellen Reife“ und der persönlichen Eignung lange Zeit zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Auch eine Überhöhung des Priesteramtes könne Vorfälle begünstigt haben.

Es braucht einen Kulturwandel.
Ulrich Weber, vom Bistum Mainz beauftragter Rechtsanwalt

Das Sündenverständnis, die Sexualmoral oder auch der Umgang mit Geheimnissen und Macht müsse überdacht werden, sagte Weber. Enttäuscht zeigten sich Weber und Co-Autor Johannes Baumeister über den Rücklauf von Umfragen in Gemeinden und Caritas-Verbänden. Mehr als 40 Prozent der Pfarreien und über 20 Prozent der Pfarrverbände und Pfarrgruppen hätten sich trotz Aufforderung durch das Bistum nicht beteiligt, bei Caritas-Einrichtungen sei der Rücklauf „sehr gering“ gewesen.

Das lasse eine teils unzureichende Sensibilisierung für das Thema vermuten, kritisierte Weber. Es brauche einen Kulturwandel. „Eine Kultur der Achtsamkeit kann aber nicht auf die Bistumsleitung beschränkt werden.“ Auch Mitarbeiter, Ehrenamtliche, alle Gläubigen und die gesamte Gesellschaft seien gefordert.

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