Tod im StauendeProzess im Amtsgericht Leverkusen erst 42 Monate nach Unfall

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Ein Lkw war im Mai 2016 ungebremst in ein Stauende gefahren und hatte mehrere Fahrzeuge ineinandergeschoben, darunter das Wohnmobil, das Murat Terzi steuerte. 

Leverkusen – Murat steht im Flur und lächelt den Besucher freundlich an – aus einem Fotorahmen. Er umarmt seine Mutter im Wohnzimmer – auf einem Gemälde. Er hockt im Schlafzimmer als kleiner Prinz auf dem Kopfteil des Bettes, steht in zigfacher Ausführung auf dem Nachttischchen und prangt lebensgroß auf einem Fotodruck an der Wand. Murat ist allgegenwärtig, obwohl er tot ist.

Seit dreieinhalb Jahren wartet seine Mutter Bedirye Terzi aus Köln-Longerich darauf, dass dem Todesfahrer der Prozess gemacht wird. „Mein Junge soll endlich seine Ruhe finden“, sagt sie leise. Und sie selbst? Die 50-Jährige ehemalige Gastronomin hebt langsam den Kopf: „Ich weiß nicht. Ich bin seit dem Unfall auch tot. Ich atme nur noch.“

Sie erzählt ihre Geschichte, die Geschichte einer Mutter, die am Tod ihres Kindes und am langen Arm der deutschen Justiz zerbricht. Es war ein ganz normaler Tag, dieser 30. Mai 2016. Nicht zu warm, nicht zu kalt. Nicht sonnig, nicht regnerisch.

Studium beim Tüv gerade beendet

Murat (damals 22) war gerade fertig mit einem Elektronik-Studium beim Tüv, hatte einem Freund versprochen, ein Wohnmobil von Dortmund nach Köln zu überführen. „So war er halt“, sagt Bedirye Terzi, „immer freundlich, immer hilfsbereit.“ Ein Familienmensch, der davon träumte, ein großes Haus zu bauen, in dem die ganze Familie zusammenleben würde. Er habe ihr noch „Allah’a emanet ol“ nachgerufen. „Gott schütze dich, Mama“, bevor er losfuhr.

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Bedirye Terzi blättert im Fotoalbum ihres im Mai 2016 tödlich verunglückten Sohnes. 

Murat rief den ganzen Tag nicht mehr an, schickte auch keine SMS. „Das kannte ich gar nicht von ihm“, sagt seine Mutter. „Aber ich wollte ja, dass er sich mehr abnabelte. Murat war immer für mich da, wartete sogar jede Nacht, bis ich nach dem Kellnern die Wohnungstür aufgeschlossen hatte. Er war mein großer Beschützer.“

Ihr Sohn hatte an diesem Tag keinen Schutzengel. Ein Lkw-Fahrer fuhr um 13.45 Uhr ungebremst in das Stauende zwischen Leverkusen und Burscheid. Der Sattelschlepper schob einen Kleinlaster, einen Kombi, einen Tanklastzug und ein Wohnmobil ineinander. In dem Wohnmobil saß Murat – das einzige Todesopfer dieses verheerenden Unfalls.

Die Nachricht erreichte sie bei der Arbeit

Bedirye Terzi hat diesen Abend immer wieder vor Augen. Wie Murats Verlobte anrief, weil sie nichts von ihm gehört hatte. Wie sie drei Wassereis gegessen hatte, „weil mein Herz mit einem Mal so brannte“. Und wie der Polizist in der Gaststätte auftauchte, in der sie kellnerte. „Frau Terzi ...“

Und dann – Nebel. Nichts als Nebel. Sie kann sich nicht mehr an die Beerdigung erinnern, die ihre Familie für sie ausgerichtet hatte. Nichts als Nebel. „Wir waren doch dabei, seine Hochzeit zu planen, aber kein Begräbnis“, sagt sie.

Sie blättert im Fotoalbum, das eine Frau mit einem flotten Kurzhaarschnitt zeigt und einen kräftigen jungen Mann, der seine Mutter liebevoll anlächelt. Heute ist ihr Haar grau, sie war „seit dem Tod nicht mehr beim Friseur“, trägt eine Kette mit Murats Namen um den Hals und verlässt die Wohnung nur noch, um mit Lilly, der Jack-Russell-Dame ihres Sohnes, Gassi zu gehen. Sie kann nicht mehr arbeiten, ihre Schwester Fatma kommt täglich, um ihr beizustehen. „Dabei war Bedirye früher so eine lebenslustige, quirlige Person“, sagt Fatma.

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Einmal habe der Todesfahrer sie aufgesucht, um sich zu entschuldigen, sagt Bedirye Terzi. „Ich muss ihn wohl ziemlich angebrüllt haben“, das habe zumindest ihre Familie gesagt. Nebel, der Nebel des Vergessens hat sich wieder einmal wie ein Schutzschild um sie gelegt. Die Wand der Trauer kann auch ihre Therapeutin nicht durchbrechen, die sie einmal in der Woche aufsucht.

Ihre Stimme wird lauter. „Alle sagen immer, ich muss endlich ein neues Leben anfangen, nach vorne sehen. Aber wie soll das gehen, wenn die Vergangenheit für mich als Mutter noch nicht abgeschlossen ist? Seit dreieinhalb Jahren warte ich darauf, dass man überhaupt erfährt, was passiert ist. Warum es keine Bremsspuren gab. Sekundenschlaf, habe ich mal gehört. Da hat man doch nach einer Sekunde die Augen wieder auf, da kann man doch noch bremsen, oder?“

Am Dienstag ist es endlich so weit. Es kommt – nach sage und schreibe fast 42 Monaten – zum Prozess vor dem Amtsgericht Leverkusen. „Ich bin seit über 21 Jahren ausschließlich im Strafrecht tätig, aber dass sich etwas so lange hinzieht, habe ich noch nie erlebt“, sagt Terzis Anwalt, Michael M. Lang.

Normalerweise werde so ein Fall spätestens nach einem Jahr verhandelt, denn die Justiz sei sehr wohl interessiert daran, Prozesse schnell und sachgerecht zu Ende zu bringen, meint er. Wohl nicht in diesem Fall. Elf Monate habe die Akte ungeöffnet auf dem Tisch gelegen.

„Kein einziger Vermerk, zum Beispiel die Erkrankung eines Abteilungsrichters, nichts“, wundert sich der Anwalt. Er habe dem Gericht einen deutlichen Brief geschrieben. Das sei „ein starkes Stück“. Bedirye Terzi fragt sich: „Ist das Leben meines Sohnes, Murat Gündüz, dem Gericht so wenig wert, dass immer andere Fälle vorgezogen wurden?“

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