70 Jahre BRD: Johannes RauEin Typ, den die SPD heute gut brauchen könnte

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Johannes Rau

Johannes Rau als Bundespräsident im Januar 2001

  • Johannes Rau galt als Vater des Höhenflugs der SPD in Nordrhein-Westfalen in den 1980er-Jahren.
  • Auf dem Weg nach oben blieb aber auch der „Schutzpatron der kleinen Leute“ nicht ohne Skandale.
  • Dennoch galt Rau als moralische Instanz. Ein langjähriger Weggefährte glaubt: „Ein Politiker, der aus seinem Holz geschnitzt wäre, könnte die SPD von heute aus der Talsohle führen.“

Köln – Günter Braunersreuther sitzt in der Gaststätte „Karparthen“ in Wuppertal. Über der Eckbank hängt ein Schwarz-Weiß-Foto, das Johannes Rau beim Skatspielen mit dem damaligen Wirt zeigt. „Genau dort hat er immer gesessen“, sagt Braunersreuther, früherer Chef des SPD-Ortsvereins Katernberg, in dem Rau Mitglied war.

Der 79-Jährige hat Privatfotos mitgebracht, auf denen der frühere NRW-Ministerpräsident mit den Weggefährten von damals zu sehen ist. Jeder Schnappschuss erzählt eine Geschichte  – über Rau  und über die Jahre, in denen NRW die „Herzkammer“ der Sozialdemokratie war. „Johannes war ein politisches Ausnahmetalent. Ohne ihn wäre der Höhenflug der SPD in den 80er Jahren nicht möglich gewesen.“

Großes Vertrauen über die Partei hinaus

Am Muttertag, dem 12. Mai 1985, kletterte der rote Balken der SPD bei der Landtagswahl auf 52,1 Prozent, das waren noch einmal 3,8 Prozent mehr als beim Traumergebnis fünf Jahre zuvor. Trotz der Krise bei Eisen und Stahl im Ruhrgebiet und der Konkurrenz durch die aufstrebende Umweltbewegung erzielte die NRW-SPD das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Das war nur möglich, weil der Spitzenkandidat über die Partei hinaus großes Vertrauen genoss.

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Johannes Rau, das war der „Schutzpatron der kleinen Leute“. Trotz großer Widerstände hielt er an der „Kohlevorrangpolitik“ fest, kämpfte für die Jobs der Kumpel im Revier. Auch Lehrer und linke Studenten sahen sich durch seine Bildungsinitiativen gut vertreten. Die  Einführung der Gesamtschulen und fünf neue Hochschulen sollten für mehr  Aufstiegschancen sorgen.

„Rotkäppchen ist durch die Lappen gegangen“

Der Sohn eines Predigers hatte die Gabe, den Menschen zuzuhören und  zu überzeugen.  Zu Terminen am Wochenende sei er bisweilen mit dem Fahrrad erschienen. Braunersreuther: „Seine Leibwächter hatten es nicht leicht, weil er sich immer wieder unbemerkt aus dem Staub machte. Für den Fall gab es im Funkverkehr einen Codesatz: ,Rotkäppchen ist durch die Lappen gegangen.““

Rau gehörte dem Landesparlament 41 Jahre an, war acht Jahre Minister und 20 Jahre lang Ministerpräsident – länger als jeder andere. Die  Union biss sich die Zähne an dem „Menschenfischer“ aus. Dem langjährigen Junggesellen, der er erst mit 51 Jahren heiratete, konnten auch Gerüchte über seine angebliche Homosexualität nicht schaden.

Zum Geburtstag gab es einen persönlichen Brief

Rau war authentisch, ohne den Menschen nach dem Mund zureden, ein Kümmerer, der nicht viel Wind um sich machte. „Unser Ortsverein traf sich früher in der Gaststätte Freibad Eckbusch“, erzählt Braunersreuther. Rau sei oft dabei gewesen, auch, als er schon Ministerpräsident war. „Wer Geburtstag hatte, bekam einen persönlichen Brief von ihm. Seine Gabe, sich an Menschen zu erinnern, die ihm mal begegnet waren, hat uns alle immer wieder verblüfft.“

In Wuppertal, wo Rau am 16. Januar 1931 geboren wurde, wird die Erinnerung an den großen Sohn der Stadt in besonderer Weise gepflegt. Der Platz vor dem Rathaus wurde in „Johannes-Rau-Platz“ umbenannt. „Da oben war sein Büro“, sagt Anne Linsel – und zeigt auf die Fenster im ersten Stock des Gebäudes. Die Kulturredakteurin hat den Weg des SPD-Politikers journalistisch begleitet.  „Bruder Johannes“, hieß ein Film, den sie 2004 für den WDR drehte.  „Rau hat die Nähe zu den Menschen gesucht“, sagt Linsel. Deshalb habe er von seiner Zeit als Wuppertaler Oberbürgermeister geschwärmt.  „Politik, die nicht das Ziel hat, das Leben der Menschen menschlicher zu machen, soll sich zum Teufel scheren“, sei sein Credo gewesen.

Moralische Instanz, aber nicht ohne Skandale

Rau gilt als moralische Instanz. Die Aussöhnung mit den Juden war ihm eine Herzensangelegenheit. Als Bundespräsident darf er 2000 vor der Knesset, dem israelischen Parlament, sprechen – auf Deutsch. „Er war der erste deutsche Politiker, dem diese Ehre zu Teil wurde. Das hat ihn tief beeindruckt“, so Anne Linsel.  Wer sich an Rau erinnert, denkt auch an seine Sprüche: „Mein Hund ist als Hund eine Katastrophe, aber als Mensch unersetzlich“, lautet ein  überliefertes Zitat. Natürlich hat auch Linsel einen Rau-Spruch parat: „Kultur und Kunst sind nicht die Sahne auf dem Kuchen, sondern die Hefe im Teig.“ 

Auch die Rau-Ära lief nicht skandalfrei ab. 2000 kam ans Licht, dass die Landesbank West LB von der Landesregierung für politische Zwecke instrumentalisiert worden war. Vielen Politikern waren private Flüge bezahlt worden. Auch die Zeche für Raus Feier zum 65. Geburtstag hatte die West LB übernommen. Die Affäre sorgte für Kratzer an Raus Image, schadete ihm aber nicht wirklich. Seine Kampagne „Wir in NRW“, die an das Zusammengehörigkeitsgefühl appellierte, gilt bis heute als Vorbild. Würde Raus Integrationspolitik noch funktionieren?

„Könnte die SPD von heute aus der Talsohle führen“

Reinhard Grätz nickt. Der 79-Jährige, der von 1970 bis 2000 für die Wuppertaler SPD im Landtag Politik machte, sitzt vor einem Stapel mit Zeitungsausschnitten und erinnert sich: „Ein Politiker, der aus seinem Holz geschnitzt wäre, könnte die SPD von heute aus der Talsohle führen.“ Grätz erzählt davon, dass Rau seinen Beratern „tatsächlich zuhörte“.

Das Spektakel sei ihm „wesensfremd“ gewesen. „Das wohl ist der große Unterschied zu den Akteuren, die nach ihm kamen.“ Rau ist laut Grätz nur selten laut geworden und habe Wert auf gute Umgangsformen gelegt. „Deswegen hatte er mit den Grünen Probleme. Mätzchen und Blumentöpfe hatten seiner Meinung nach im Plenarsaal nichts zu suchen.“

Herbe Rückschläge auf dem Weg nach oben

Auf dem Weg nach ganz oben, in die Villa Hammerschmidt, musste der Wuppertaler auch zwei herbe Rückschläge einstecken. 1994 unterlag er bei der Bundespräsidentenwahl dem CDU-Kandidaten Roman Herzog.  Bei der Bundestagswahl 1987 unterlag Rau Helmut Kohl. Wäre die Wiedervereinigung mit Rau   anders verlaufen? „Der Fehler von Kohl, blühende Landschaften zu versprechen, wäre ihm nicht passiert“, glaubt Grätz. Das Zusammenführen der Menschen in Ost und West wäre ihm wahrscheinlich besser gelungen: „Vielleicht gäbe es dann heute weniger Wähler in den neuen Ländern, die sich vom demokratischen System entfremdet haben und AfD wählen. Aber wer weiß das schon.“

Vor dem ehemaligen Wohnhaus der Familie erinnert nur ein Verkehrszeichen daran, dass dort einmal ein Prominenter wohnte. „Einsatzfahrzeuge frei“, steht unter dem Halteverbotsschild in der Zufahrt.  Johannes Rau starb  am 27. Januar 2006 in Berlin.  

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