Antisemitismus in NRW„Manche Menschen haben Angst”

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Eine Teilnehmerin einer Kundgebung gegen Hass und Widererstarken von Antisemitismus in Solingen

Eine Teilnehmerin einer Kundgebung gegen Hass und Widererstarken von Antisemitismus in Solingen

Köln/Düsseldorf – Der Mob formierte sich binnen kurzer Zeit. Beim Marsch zur Synagoge in der Gelsenkirchener Altstadt schwoll die Menge am frühen Mittwochabend schnell auf zirka 180 Personen an. Die Protestler skandierten „Scheiß Juden“ oder bezichtigten den Staat Israel als „Kindermörder“. Der Nahost-Konflikt eroberte erneut die Straßen in NRW. Palästinensische und türkische Fahnen wurden geschwenkt. Die Polizei reagierte überrascht.

Gerade einmal elf Beamte stellten sich anfangs der wütenden Menge entgegen, um das jüdische Gotteshaus zu schützen. Laut einem Polizeisprecher sei nicht daran zu denken gewesen, die antisemitischen Demonstranten aus dem Verkehr zu ziehen: „Bei uns stand der Schutz der Synagoge im Vordergrund.“

Dutzende Kundgebungen in NRW geplant

Inzwischen haben die Staatsschützer zwei Verdächtige anhand von Handyvideos identifiziert. Beide sind bei der Kripo aktenkundig, einer von ihnen soll nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ aus einem kriminellen, kurdisch-libanesischen Clan stammen.

Gelsenkirchen, Münster, Bonn, Düsseldorf, Dortmund – die Proteste und Attacken auf jüdische Einrichtungen nehmen zu. Zum 73. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung Israels und der Vertreibung hunderttausender Palästinenser aus ihrer Heimat, heizen radikale Gruppierungen die Stimmung an. Die Gefangenenorganisation „Samidoun Deutschland“ propagiert etwa die „Woche des palästinensischen Kampfes“. Neben einem Dutzend weiterer Kundgebungen in NRW erwartete die Kölner Polizei am Samstagnachmittag bis zu 400 Protestler auf dem Heumarkt. Es wurden rund 800.

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„Es gibt eine große Verunsicherung in der Gemeinde“, sagte Abraham Lehrer, Vorstand der Synagogen-Gemeinde in Köln. „Manche Menschen haben Angst.“ Lehrer wünscht sich mehr Unterstützung aus der deutschen Bevölkerung. Andere fragten sich, ob sie sich mit einer Kippa öffentlich zeigen könnten oder ihre Kinder sicher in der Synagogen-Gemeinde seien. Persönlich machten Lehrer, dessen Mutter das Konzentrationslager Auschwitz überlebte, die antisemitischen Ausschreitungen vor den Synagogen in Bonn, Münster, Düsseldorf und Gelsenkirchen mehr als nachdenklich: „Das ich das in diesem Land noch einmal erleben muss, hätte ich nicht gedacht.“ Die Ereignisse erinnerten ihn an die NS-Zeit. „Hier hat sich Geschichte wiederholt.“

Abraham Lehrer (1)

Abraham Lehrer, Vorstand der Synagogen-Gemeinde Köln

Während er sich über die Unterstützung aus der Politik freue, fordert Lehrer mehr Unterstützung aus der Bevölkerung ein. „Die Gesellschaft ist zu ruhig.“ Dabei erhalte der Antisemitismus seit einigen Jahren sichtbar mehr Zustimmung. „Jude ist seit vier oder fünf Jahren auf Schulhöfen als Schimpfwort in Gebrauch“, so Lehrer. Antisemitismus werde durch Organisationen wie die AfD salonfähig gemacht, die immer wieder rote Linien überschritten hätten und so Nachahmer ermunterten.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Laut Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) werde die Gewalteskalation aus dem Nahen Osten nach Deutschland getragen. „Das erinnert an die judenfeindlichen Taten beispielsweise im Jahr 2014, als vor dem Hintergrund des Gaza-Konfliktes die Synagoge in Wuppertal mit Brandsätzen beworfen wurde“, sagte die Antisemitismusbeauftragte des Landes NRW dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Solche Anfeindungen gebe es in allen Teilen der Gesellschaft. „Aber wenn ich mir Gelsenkirchen ansehe, dann kommt dies eher aus einem islamistischen oder Migrations-Hintergrund.“

Immer wieder Übergriffe

Aus Sicht von Susanne Schröter, Leiterin des Forschungszentrums „Globaler Islam“, sind die Krawalle „die Konsequenz eines muslimischen Antisemitismus, der hierzulande allzu lange negiert wurde“. Nicht nur in rechtsextremen Kreisen, sondern auch in muslimischen Communitys erstarke der Judenhass.

„Dies wird leider unter den Teppich gekehrt, dabei gab es in der Vergangenheit immer wieder Übergriffe auf Juden in U-Bahnen, auf jüdische Kinder in den Schulen“, so die Professorin für Ethnologie. Aus Furcht vor einer Stigmatisierung sei jedoch vielen Politikern und auch Kirchenvertretern das Thema zu heiß. „Jetzt haben wir den Salat, dass in Teilen der Muslime eine extreme Judenfeindlichkeit vorherrscht.“ Dies hänge mit islamischen Lehren und Koranversen zusammen, „die Juden und Muslime in ein absolutes Feindschafts-Verhältnis stellen“, so Schröter.

Dass die Kriminalstatistiken die antisemitischen Straftaten vor allem rechtsextremistischen Kreisen zuordnen, sei irreführend, sagt Schröter. „Alle Vorfälle, bei denen sich kein Täter finden lässt, werden automatisch dem Rechtsextremismus zugeschlagen, daher resultiert der Überhang.“ Diese Statistik widerspreche den Befragungen jüdischer Opfer. In NRW blieben laut dem Innenministerium 2020 gut die Hälfte der registrierten 276 Verfahren ungelöst.

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