Der Bonner Moraltheologe Jochen Sautermeister warnt davor, beim assistierten Suizid das Einfallstor zu einer inhumanen Gesellschaft zu öffnen.
Assistierter SuizidKeine „Normalität“ beim Sterben, bitte!

Die Kessler-Zwillinge, Alice und Ellen Kessler, haben gemeinsam Hilfe beim Suizid in Anspruch genommen.
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Am 17. November sind Ellen und Alice Kessler gestorben. Die beiden Zwillingsschwestern, aufgrund ihrer Tanz- und Gesangskünste international berühmt, waren einander aufs Engste verbunden. Normalerweise würde der Tod zweier solcher Persönlichkeiten vor allem dazu führen, dass ihr künstlerisches Lebenswerk ausführlich gewürdigt und damit zugleich ein Stück gesellschaftlicher Erinnerungsarbeit geleistet würde.
Allerdings scheinen die Umstände des Todes der „Kessler-Zwillinge“ diese Würdigung in den Hintergrund zu drängen. Die Nachricht, dass beide Schwester im Alter von 89 Jahren am selben Tag gestorben sind, wurde alsbald mit dem Hinweis auf „begleitetes Sterben“ konkretisiert. Was zunächst wie ein beiläufig erwähntes Detail wirkte, hat innerhalb kürzester Zeit die gesellschaftliche Debatte um den assistierten Suizid neu angefacht.
Der Weg der Kessler-Zwillinge, sich das Leben zu nehmen, lässt sich nicht isoliert betrachten.
Bei allem Respekt, der der höchst persönlichen Entscheidung von Ellen und Alice Kessler auch aufgrund ihrer nahezu untrennbaren Verbundenheit entgegenzubringen ist, lässt sich ihr Weg, sich das Leben zu nehmen, offensichtlich nicht isoliert betrachten. Die unterschiedlichen Reaktionen, die von emphatischer Zustimmung bis zu alarmierter Kritik reichen, lassen an Deutlichkeit nichts vermissen.
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Sie zeigen nicht nur, welches Konfliktpotenzial das Thema in sich birgt, sondern auch, welche polarisierende Kraft die Beihilfe zum Suizid auslöst. Was für die einen als legitime Normalität erhofft wird, droht für die anderen ein Einfallstor zu einer inhumanen Gestalt der Gesellschaft zu werden.
Auch diejenigen, die sich dafür entscheiden, auf natürlichem Weg zu sterben, tun dies selbstbestimmt.
In der Debatte um den assistierten Suizid spiegeln sich moralische und existenzielle Überzeugungen, bei denen es auch um das ethische Selbstverständnis der unterschiedlichen Akteure geht. Gerade deshalb ist für die öffentliche und politische Diskussion die argumentative Auseinandersetzung wichtig, um nicht von emotionalen Eigendynamiken überflutet zu werden.
Sterben und Tod zählen zu den größten existenziellen Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind. Wir alle sind von der Endgültigkeit des Todes betroffen. Das Ende des Lebens ist unausweichlich, wir können ihm nicht entrinnen. Dabei ist es nicht gleichgültig, ob man sich in das Schicksal des Sterbenmüssens fügt oder durch willentliche Entscheidung den eigenen Tod bewusst herbeiführt.
Es wäre jedoch eine Verkürzung, wenn die Rede vom „selbstbestimmten Sterben“ lediglich auf den assistierten Suizid beschränkt bliebe, wie es häufig der Fall ist. Denn auch diejenigen, die sich dafür entscheiden, auf natürlichem Wege zu sterben und etwa den Weg der palliativen Begleitung wählen, tun dies „selbstbestimmt“.
Es gäbe ein beträchtliches moralisches Unbehagen, wenn eine Hilfe zur Selbsttötung zur gesellschaftlichen Normalität würde.
Selbstbestimmung ist also kein spezifisches Kennzeichen des assistierten Suizids. Wenn es dennoch oft so insinuiert wird, dann kommt darin eine Vorstellung von Autonomie zum Vorschein, die eine Souveränität über das eigene Leben behaupten möchte – im Gegensatz zu Fremdbestimmung durch bestimmte religiöse oder moralische Normen. Niemand anderem als einem selbst, so die Sichtweise, kommt das Recht zu, über das eigene Leben zu bestimmen. Es wäre demzufolge ein illegitimer staatlicher Übergriff, wollte der Gesetzgeber der individuellen Entscheidung grundsätzliche Schranken auferlegen.
Bei aller existenziellen Tragik, die mit dem Wunsch einhergeht, sich das Leben zu nehmen, würde in unserer liberalen Demokratie wohl nur eine Minderheit das Recht des Individuums bestreiten, sich selbst töten zu dürfen. Der Suizid ist in Deutschland bekanntermaßen nicht strafbar. Und dennoch gäbe es andererseits ein beträchtliches moralisches Unbehagen, wenn eine Hilfe zur Selbsttötung zur gesellschaftlichen Normalität würde. Denn dann würde der assistierte Suizid zu einer Handlungsmöglichkeit neben vielen anderen. Besonders bei gravierender Pflegebedürftigkeit, in schwerer Krankheit oder in kritischen Lebenssituationen, denen man sich in keiner Weise gewachsen sieht, würde man diese Option mehr oder weniger gleichrangig in Erwägung ziehen.
Die ethischen Bedenken sind nicht von der Hand zu weisen.
Oder man würde sich vielleicht sogar vorrangig auf diesen Weg konzentrieren, aus dem Leben zu scheiden – aus der Not, auf andere angewiesen zu sein; aus der Sorge, anderen zur Last zu fallen oder auf der Tasche zu liegen; aus Scham, die Grundbedürfnisse nicht mehr eigenständig erfüllen zu können; aus dem Gefühl der Entwürdigung, die eigene Intimsphäre zu verlieren; oder aus der Verzweiflung, dem Leben nicht mehr gewachsen zu sein. All dies sind Situationen, in denen Menschen besonders verletzbar und beeinflussbar sind. Die Gefahr ist groß, hier einem sozialen oder inneren psychischen Druck zu erliegen, anstatt andere Wege auszuloten, mit den Belastungen umzugehen. In solchen Fällen oder bei psychischen Erkrankungen, die die Fähigkeit zur Selbstbestimmung massiv beeinträchtigen, kann also keineswegs die Rede vom selbstbestimmten Sterben sein.
Diese ethischen Bedenken sind nicht von der Hand zu weisen. Wenn daher insbesondere eine umfassende Stärkung der Suizidprävention gefordert wird, dann genau aus diesem Grund: Niemand soll den Suizid als „Ausstiegsoption“ wählen, weil die „Rahmenbedingungen“ keine andere Option zulassen, weil der soziale Druck so groß ist, weil man nicht über unterstützenden Maßnahmen hinreichend informiert ist oder weil man sich nicht vorstellen kann, in aller Gebrechlichkeit dennoch eine bleibende Würde zu haben. Die Bestrebungen für einen neuen Anlauf, den assistierten Suizid gesetzlich zu regeln, sind daher vom Interesse motiviert, Menschen davor zu schützen, den Weg des assistierten Suizids zu wählen, wenn sie das eigentlich nicht wollen.
In der Diskussion um den assistierten Suizid ist ferner eine Unterscheidung wichtig, die oft außer Acht gelassen wird: die Unterscheidung zwischen dem Menschen als Träger von Rechten und dem Menschen mit seinen Fähigkeiten zur Selbststeuerung. Als Rechtssubjekt hat der Mensch das Recht, sich selbst zu bestimmen. Als Handelnder hat der Mensch mehr oder weniger die Fähigkeit dazu. Seine Freiheit ist psychisch und sozial bedingt und damit beeinflussbar. Beides muss der Gesetzgeber im Blick haben. Wenngleich das Sterben individuell ist, so findet es doch nie im gesellschaftsfreien Raum statt. Wie Menschen sterben, hat immer Auswirkungen auf das Leben anderer Menschen.
Gerade deshalb sollte alles vermieden werden, was den assistierten Suizid zu einer Normalität werden ließe. Angesichts des Pflegenotstands, der in den kommenden Jahren noch erheblich zunehmen wird, sowie der steigenden Kosten des Gesundheitssystems würde eine solche Normalisierung das „selbstbestimmte Sterben“ gerade bedrohen.

