Auschwitz Zeitzeugin Philomena Franz„Wenn wir hassen, verlieren wir“

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Philomena Franz in ihrer Wohnung in Bergisch Gladbach

Philomena Franz in ihrer Wohnung in Bergisch Gladbach

  • Die 97-jährige Bergisch Gladbacherin Philomena Franz erzählt auch 75 Jahre nach der Befreiung des Lagers weiter gegen den Hass an.
  • Die fast Hundertjährige hat Hass und Rachegelüste hinter sich gelassen. Die Unmenschlichkeit überlebt habe sie schließlich „auch dank der Liebe“, die sie in den Abgründen fand – in sich und anderen.
  • Wir haben Philomena Franz in ihrer Bergisch Gladbacher Wohnung getroffen.

Bergisch Gladbach – In der Asche waren kleine, weiße Kiesel. Ich weiß nicht, wie viele Menschen ich wegschaufeln musste von der Rampe“, sagt sie. Ihre Augen, auf die sich ein Staubfilm gelegt hatte, als sie vor dem Krematorium von Auschwitz die Überreste der Ermordeten auf Lastwagen schippen musste, sind nicht gealtert. Dunkel und durchdringend sind sie, schön und melancholisch und wissend; sie haben alles gesehen.

Philomena Franz empfängt in ihrer Wohnung in einem Hochhausviertel am Stadtrand von Bergisch Gladbach. Drinnen weiche Teppiche, Bilder der Verwandten, die meisten von den Nazis ermordet, vor einem Foto ihres letzten Sohnes flackert eine Kerze, über ihm wacht eine goldene Madonna. Johann ist vor drei Monaten gestorben, alle fünf Kinder sind jetzt fort.

„Johann war meine Stütze“

„Johann war meine Stütze“, sagt Philomena Franz. „Aber ich darf mich nicht hängenlassen. Vielleicht haben meine Kinder es besser, wo sie jetzt sind. Wir leben in keiner guten Welt. Ich glaube, dass Atombomben alles zerstören werden. Die, die übrig bleiben, haben unter einem blinden Baum Platz, heißt es ja.“

Die 97-Jährige geht in die Küche, aufrecht am Stock, zu dem der Doktor geraten hat, in der Pfanne köcheln Knödel aus Brot und Eiern in pikanter Soße, dazu Rindfleisch, „ein Sinti-Gericht“, sagt sie, schmeckt ab, macht einen grünen Salat an, es fehlt Essig, sie gibt ein paar entschiedene Spritzer hinzu, „es soll ja schmecken, wir müssen nicht sparen.“

Trockenes Brot und Wassersuppe

In Auschwitz-Birkenau, Lagerabschnitt B II e, von der SS „Zigeunerlager“ genannt, erhielt Franz ab April 1943 eine Scheibe trockenes Brot und manchmal eine Wassersuppe mit ein paar Rübenstücken pro Tag. Von den rund 22.600 Menschen, die von den Nazis als „Zigeuner“ oder „Zigeunermischlinge“ kategorisiert worden waren, starben mehr als 19.300, die meisten an planmäßiger Mangelernährung.

Die Nationalrassisten gaben Philomena Franz, die einen deutschen Sinti als Vater und eine jüdische Französin als Mutter hatte, die Nummer Z 10550. Bei der Ankunft selektierte man sie zu den Arbeitsfähigen, tätowierte ihr die Zahl auf den linken Unterarm und trieb sie ins Lager. „Ich habe nie überlegt, die Zahl wegmachen zu lassen. Sie soll als Mahnmal daran erinnern, was nie wieder geschehen darf.“

Hass und Rachegelüste hinter sich gelassen

Mit „Freundin des Mutes“ oder „Geliebte“ lässt sich Philomena übersetzen. Angesprochen auf den Titel ihrer Autobiografie, „Von Liebe und Hass“, sagt Franz diesen schönen Satz, den man den Trumps und Putins und Erdogans, rechten Hetzern und Nationalisten als Endlosschleife vorspielen möchte: „Wenn wir hassen, verlieren wir, wenn wir lieben, werden wir reich. Hass und Gewalt bringen nur Unglück.“ Die fast Hundertjährige, die da am Tisch sitzt und isst, die glatte Stirn von einer Zornesfalte zwischen den Brauen und zwei flankierenden Kerben unterbrochen, hat Hass und Rachegelüste hinter sich gelassen. Die Unmenschlichkeit überlebt habe sie schließlich „auch dank der Liebe“, die sie in den Abgründen fand – in sich und anderen.

Kein Hass. Die gläubige Katholikin sagt das, als sei das normal. Nach Deportationen nach Auschwitz, den Lagern in Ravensbrück und Oranienburg, Zwangsarbeit in deutschen Waffenfabriken, Hunger, dem Mord an Vater, Mutter, fünf Geschwistern, Onkeln, Nichten und Neffen, den Leichen, die sie in Auschwitz sah, der Asche, die sie wegschaufeln musste. Kein Hass, obwohl die Geschichte an einer Kölner Schule vor vielen Jahren auch ihren ältesten Sohn einholte, der „als „dreckiger Zigeuner“ beschimpft wurde. Obwohl die Deutschen die Sinti und Roma lange nicht anerkannten als Völkermordopfer. Kein Hass, obwohl manche der ganz und gar nicht in die Opferrolle passenden Frau ihre Geschichte, die vielfach dokumentiert ist, nicht glaubten. „Mich hat die Geschichte gelehrt, mit jedem zu reden“, sagt sie. „Auch Leute von der AfD habe ich empfangen, um ihnen einzubläuen: Sät keinen Hass, tut etwas, dass sich der Massenmord nicht wiederholt.“ Mit freundlichen Grüßen an Gauland, Höcke & Co.

„Lieber sterbe ich!“

Ihre Haltung und auch die Trauer um ihr letztes Kind helfen zu erklären, warum Philomena Franz von sich aus nicht viel von Auschwitz erzählt. Schon am Telefon sagte sie, die Erinnerung strenge sie an. Sie erzählt also nicht gleich von der Ankunft, bei der ein SS-Mann anordnete, ihre Haare, die bis zur Taille reichten, sollten nicht rasiert werden – woraufhin eine Frau sie beglückwünschte, dass sie ins Bordell komme und Franz schrie: „Nein, da gehe ich nicht hin, lieber sterbe ich!“ Sie erzählt nicht von der Rassen- und Sippenforscherin, die ihre Ohren, Nase und Augen vermaß, Franz befahl, durch den Raum zu gehen, um zu dem Schluss zu kam: „Typisch Inderin.“ Sie berichtet nicht von Josef Mengele, dem berüchtigten Arzt und Menschenversuchslaboranten des „Zigeunerlagers“, der ihr eine Spritze in den Brustkorb jagte, woraufhin sie „zwei Wochen nicht richtig bei Bewusstsein“ war. Sie erzählt zunächst nicht vom Hunger und nicht von den Kieseln in der Asche.

Franz erzählt lieber von ihrer privilegierten Familie, von der viele angesehene Musiker waren. Ihrem Großvater, einem Cellisten, überreichte der letzte König von Württemberg, Wilhelm II., als Auszeichnung eine goldene Rose. Ihre Eltern – er Cellist, sie Sängerin – besaßen Häuser in Bad Cannstatt und der Provence, fuhren schon vor dem Krieg Auto und hielten zwei Rennpferde, bis die Nazis sie der Reihe nach deportierten und die meisten ermordeten.

Erinnerungen an SS-Frau

Bis heute wirkt Philomena Franz in Worten und Taten erhaben und dominant. Eine Aristokratin mit Grandezza im Hochhaus am Stadtrand. Am Telefon nannte sie ihre Bedingungen – „sie bekommen Kaffee und etwas Leckeres zu essen, aber eine Spende für die Waisenkinder, die ich unterstütze, müssen Sie schon mitbringen.“ Sie nimmt die Pfanne vom Herd und sagt: „Jetzt essen wir uns satt, und dann fragen Sie.“

Von der Liebe inmitten des Hasses kann sie schon beim Knödel-Essen sprechen. Sie erinnert sich an eine junge SS-Frau, die hörte, wie Franz als Zwangsarbeiterin „Nur nicht aus Liebe weinen“ von Zarah Leander sang. „Wer war das?“, habe die Frau in die Halle gerufen. „Ich“ antwortete Franz nach kurzem Zögern, um keine andere zu gefährden. „Hochkommen!“, habe die Frau befohlen. „Ich dachte: Jetzt ist es aus. Aber in ihrem Büro hat die Frau mich gefragt, woher ich denn so schön singen könne.“ Sie habe in der Folge öfter für die Arbeiterinnen und die SS-Frau Lieder angestimmt. „Sie war so alt wie ich und hatte Heimweh.“

Hitler war selber Mischling

Sie erinnert sich an ihren Bruder, der als Soldat der Wehrmacht an der Front kämpfte, mit dem sie während eines Heimaturlaubs französisch sprechend durch Stuttgart flanierte, um nicht als Zigeuner (so nennt sie sich auch selbst) aufzufallen, die braven Schwaben zu irritieren, die tuschelten, ob da ein französischer Soldat mit seiner Geliebten ging, bevor die Schönheit ihnen auf Schwäbisch zurief: „Ne, wir sind lupenreine Schwobe!“

Die Gestapo sah das anders. Bevor sie im April 1944 nach Auschwitz deportiert wurde, klassifizierte man sie als Mischling – halb Zigeunerin, halb Jüdin. „Die Mischlinge waren für Hitler die Schlimmsten, die wollte er zuerst weghaben, dabei war er selbst Mischling“, sagt sie.

Der Traum von Blumenwiesen

Als sie von Auschwitz-Birkenau erzählt, sagt sie, dass sie sich, wann immer es möglich war, in ihre Kindheit und Jugend träumte, die Blumenwiesen sah und die Insekten, deren Namen ihr Großvater ihr stundenlang erklärte. „Ich habe hinter der Baracke des Lagers gesessen, mit Gott gesprochen und mich weggeträumt, ich war dann gar nicht mehr in meinem Körper, sondern ganz woanders, in meiner Heimat, bei meiner Familie, das hat mir geholfen.“ Sie erzählt, wie die Frauen in Birkenau von der trockenen Scheibe Brot, die die KZ-Häftlinge als Tagesration erhielten, jede eine Ecke abgaben an eine Mutter mit einem Säugling – und das Kind dadurch weiter gestillt werden konnte.

In ihren Erinnerungen schreibt Franz, wie sie in der Schlange vor den Gaskammern stand. Wie sie einem Soldaten zurief: „Wir sind deutsche Zigeuner. Mein Bruder dient in der Wehrmacht!“ Wie sie plötzlich ein Kind zwischen ihren Beinen spürte, das sie unter ihrem Rockzipfel versteckte. Wie ein betrunkener SS-Mann aus dem Zigeunerlager vor ihr verharrte und sie fragte: „Seid ihr Deutsche?“, sie „Ja!“ sagte und nicht in die Kammer getrieben wurde wie die anderen, sondern die Asche mit den winzigen Kieseln aus Knochen schaufeln musste. „Fast hätte ich vergessen, Ihnen das zu erzählen.“

Franz lebt für die Liebe

Franz hat ihre Geschichte vor Hunderten Schulklassen, Studierenden, Journalisten, Politikern erzählt. 1995 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz am Bande, 2013 den Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen. 2001 ernannte man sie zu einer der „Frauen Europas“. Als der Schriftsteller Matthias Buth seinerzeit vorschlug, die damals in Rösrath lebende Zeitzeugin zur Ehrenbürgerin zu ernennen, schwiegen die Parteien, derweil Buth anonyme Briefe erhielt, mit Fragen wie: „Was hat denn die für uns getan?“

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Philomena Franz hat überlebt. Sie ist in Deutschland geblieben, dem Land der Täter, die ihre Familie ermordeten. Sie lebt für die Liebe. Und berichtet. Wer ihre Geschichte hört, kann nicht ausweichen, nicht kleinreden, nicht abwiegeln. Diese Woche empfängt die 97-Jährige in ihrer Wohnung Schüler. Um ihnen zu erzählen, warum wir nur verlieren, wenn wir hassen.

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