Das Plastiktüten-PrinzipWer eigentlich schuld ist am Zustand der Welt

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Dicke Plastiktüten sind tabu, dünne weiter erlaubt.

  • Frank Nägele macht sich in dieser Kolumne auf die Suche nach dem oder der Schuldigen für die katastrophalen Entwicklungen unserer Zeit – und landet am Ende gedanklich unter anderem bei der Plastiktüte.
  • Mit der Plastiktüte, dem Fluch des Einzelhandels, haben wir gezeigt, wie es besser geht. Eines Tages war die Plastiktüte weg. Keiner konnte sie mehr kaufen. Niemand vermisste sie.

Wenn ich an Schuld denke und die Frage, wer sie an all den apokalyptischen Entwicklungen trägt, taucht vor dem inneren Auge mein einstiger Schulweg auf.

Jeden Morgen ging der Junge an einem hohen Schornstein vorbei, der die rußigen Abgase einer Fabrik in den Himmel blies. In der ersten Woche hoffte er noch, das würde bald aufhören. Aber als der Schornstein Tag für Tag, Woche für Woche, Monat und Monat den Ruß in den Himmel blies und der Junge verstand, was eine Atmosphäre ist und die Luft, die wir alle zum Atmen brauchen, wurde er wütend. Die Erwachsenen sagten ihm, dass in der Fabrik Menschen arbeiteten und Geld verdienten, damit Kinder wie er etwas zu essen und anzuziehen hätten. Der Junge wollte essen und etwas anzuziehen haben. Man versicherte ihm, es werde immer genug Luft zum Atmen da sein. Also akzeptierte er den Schornstein. Der Junge fühlte vieles. Aber keine Schuld.

Schuld hatte der Junge schon früher kennengelernt als Gefühl in der Kirche am Sonntagmorgen. Wir Kinder im reformierten Südwesten saßen auf einem Balkon neben der Orgel, den blutenden Jesus mit der Dornenkrone fest im Blick. Es roch sehr protestantisch. Das Donnern der sakralen Akkorde ließ uns noch kleiner werden. Eine alte Frau erzählte bedrohliche Geschichten, in denen viele Menschen umkamen. Die Stunde war immer sehr lang. Und wenn ihm die Mama beim Abendgebet, das mehr eine Einschlafhilfe war, die Worte vorsprach „Ich bin klein, mein Herz mach rein“, dann sprach er nach: „Ich bin klein, mein Herz ist rein.“ Ein Fünfjähriger weiß sehr gut, wie viel Schuld er tragen sollte.

Im Fernsehen sah der Junge zu dieser Zeit Bomben auf Menschen fallen, die brennend um Hilfe schrien. Er erfuhr von Hitler, Auschwitz und der Atombombe. Und während sich die meisten einig waren, dass so etwas niemals mehr geschehen dürfe, tobten der Vietnam- und der Sechstagekrieg, starben Menschen an der innerdeutschen Grenze, und die Supermächte rüsteten immer weiter auf. Als der Junge ein Jahrzehnt später bei der Bundeswehr war, um selbst ernüchtert festzustellen, wie der Gedanke von Abschreckung durch Militär bei uns funktioniert, da fühlte er vieles, aber keine Schuld.

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Irgendwann wurde dem jungen Menschen klar: Er war in eine lärmende, brummende und rauchende Welt geworfen worden, die vor Stolz auf alle ihre Errungenschaften platzte. Der Mensch, so lautete die permanente Botschaft an ihn, muss ständig in Bewegung sein, muss immer weiter, darf nicht sparen mit seiner Energie und der Energie der anderen. Keinesfalls soll er an Wochenenden in seinem Zimmer sitzen, lesen, träumen, Musik hören oder nur für sich abends im Wald spazieren gehen. Wer das tat, war ein Faulpelz.

Außerdem hatten die Eltern ein neues Auto gekauft und mussten überallhin fahren. Überallhin zu fahren und zu fliegen war das Ideal des Lebens. Es gab eine Zeit, da flog der Junge von früher viel, und alle lobten ihn dafür, weil er die Welt kennengelernt hatte und sie beschreiben konnte. Heute fliegt er am liebsten gar nicht mehr.

Seit seinen Kindertagen beschäftigt ihn die Vorstellung, dass wir all das Zeug, um das so ein Aufheben gemacht wird, gar nicht brauchen. Es hatte den Jungen nie interessiert, was er nicht brauchte, bis ihm diese lärmende, brummende und rauchende Welt einredete, er brauche es doch. Und jetzt sitzt er da mit all diesen Sachen, die wie einst der Schornstein Symbole für den Kreislauf der Wirtschaft sind und muss sich sagen lassen, dass deshalb die Welt untergeht.

Eine Welt, die den Menschen Dinge aufschwatzt und ihnen dann die Verantwortung an ihrem Untergang übertragen will, weil sie diese Dinge irgendwann benutzen, funktioniert nach dem falschen Schuldprinzip. Mit der Plastiktüte, dem Fluch des Einzelhandels, haben wir gezeigt, wie es besser geht. Ganz unabhängig davon, ob ihre Abwesenheit die globalen Meere rettet: Hier wurde der einzig wirksame Mechanismus angewandt. Eines Tages war die Plastiktüte weg. Keiner konnte sie mehr kaufen. Niemand vermisste sie. An dieser Stelle haben nicht Einsicht und Idealismus eine vielleicht überlebenswichtige Sache entschieden, sondern Fakten, über die niemand mehr nachdenken muss.

Einsicht und Idealismus sind wichtig als Beispiele für vorbildliches Handeln. Aber als Qualifikation für den Kampf um so etwas Wichtiges wie unsere Welt sind sie zu hohe Hürden. Wir brauchen Hürden, die von sehr vielen Menschen ohne zu schweren moralischen Ballast übersprungen werden können. Und ich bin mir sicher, dass die populäre Frage nach der Schuld am Ende nicht entscheidend sein wird.

Und falls mich doch jemand fragt, wer schuld an allem ist: Ich bin es nicht.

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