Direkte DemokratieBremsklotz für Wandel und Erneuerung

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Zeitaufwendige Bürgerräte führen zum Tempoverlust, meint unser Autor.

Köln – Unter der Überschrift „Moderner Staat und digitaler Aufbruch“ haben SPD, Grüne und FDP in dem Sondierungspapier, das ihren derzeitigen Koalitionsverhandlungen zugrunde liegt, die Erkenntnis festgehalten, dass Demokratie vom Vertrauen in alle staatlichen Institutionen und Verfassungsorgane lebt.

Michael Bertrams war Präsident des Verfassungsgerichtshofs NRW. Er schreibt auf ksta.de über aktuelle Streitfälle sowie rechtspolitische und gesellschaftliche Entwicklungen.

Michael Bertrams war Präsident des Verfassungsgerichtshofs NRW. Er schreibt auf ksta.de über aktuelle Streitfälle sowie rechtspolitische und gesellschaftliche Entwicklungen.

Daran anschließend heißt es in dem Papier: „Wir werden daher das Parlament als Ort der Debatte und der Gesetzgebung stärken. Wir wollen die Entscheidungsfindung verbessern, indem wir neue Formen des Bürgerdialogs, wie etwa Bürgerräte nutzen, ohne das Prinzip der Repräsentation aufzugeben.“

Alter Wein in neuen Schläuchen

Das klingt in der Tat fortschrittlich und modern, erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung im Kern als „alter Wein in neuen Schläuchen“: Es geht bei der Einrichtung von Bürgerräten lediglich um eine erweiterte Form tradierter Bürgerbeteiligung.

Hintergrund dieser rechtspolitischen Bemühung ist die Tatsache, dass in unserer repräsentativen Demokratie alle wesentlichen Entscheidungen auf staatlicher Ebene in Parlamenten durch vom Volk gewählte Abgeordneten getroffen werden. Auf kommunaler Ebene gilt Entsprechendes: Hier entscheiden die gewählten Vertreter in den kommunalen Gremien.

Demokratische Legitimation und Bürgerwille

Die so getroffenen Entscheidungen sind zwar demokratisch legitimiert. Sie entsprechen jedoch nicht immer dem, was die Bürgerinnen und Bürger im Einzelfall wollen. Das gilt insbesondere mit Blick auf sogenannte Großprojekte wie den Bau oder die Erweiterung von Flughäfen und Autobahnen oder die Errichtung von Mülldeponien, Kraftwerken oder sonstigen Industrieanlagen.

Immer wieder werden diesbezügliche parlamentarische Entscheidungen massiv infrage gestellt. Dem hat der Gesetzgeber 2013 durch das Gesetz zur Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung von Planfeststellungsverfahren Rechnung getragen. Danach ist bei der Planung von Vorhaben, die nicht nur unwesentliche Auswirkungen auf die Belange einer größeren Zahl von Menschen haben können, die „betroffene Öffentlichkeit“ frühzeitig über die Ziele des Vorhabens zu unterrichten, über die Mittel, es zu verwirklichen, sowie über die voraussichtlichen Auswirkungen. Außerdem muss es Gelegenheit zur Äußerung und Erörterung geben.

Mitgliedschaft per Losentscheid

Von einer derartigen Form der Bürgerbeteiligung unterscheiden sich die von den Ampelparteien ins Auge gefassten „Bürgerräte“ dadurch, dass diese nicht nur an Planungsvorhaben der genannten Art beteiligt sein sollen, sondern auch an Gesetzesvorhaben zu allgemeinen politischen Problemen, ohne davon im Einzelfall betroffen zu sein.

Bürgerräte setzen sich dementsprechend nicht aus einer „betroffenen Öffentlichkeit“, sondern aus Bürgerinnen und Bürgern zusammen, die zufällig aus der Bevölkerung ausgelost werden mit dem Ziel, zu einer konkreten Frage – etwa der, welche Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels oder zur Organisation künftiger Pflege in Deutschland notwendig sind – gemeinsame Lösungen zu entwickeln und diese dem zuständigen Parlament vorzuschlagen.

Verwirklichung fraglich

Ob aus dem Projekt „Bürgerräte“ der künftigen Ampel-Koalitionäre etwas wird, ist fraglich. Die Bildung solcher Gremien und deren Beteiligung am parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren wirft eine Fülle komplexer Detailfragen auf. Bereits CDU/CSU und SPD hatten in ihrem Koalitionsvertrag 2018 unter der Überschrift „Bürgerbeteiligung“ eine Experten-Kommission vereinbart, die Vorschläge erarbeiten sollte, „ob und in welcher Form unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden kann“. Zur Einsetzung einer solchen Kommission ist es jedoch nicht gekommen.

Ich vermute, dass es dabei auch in der neuen Legislaturperiode bleibt.

Unabhängig davon halte ich die Beteiligung von Bürgerräten an Gesetzesvorhaben auf Landes- oder Bundesebene für wenig hilfreich. Das gilt insbesondere für Pläne des Gesetzgebers, die sich auf hochkomplexe, technisch geprägte Projekte beziehen.

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Gerade hier erweisen sich die Stärken des repräsentativen Systems, in dem Parlamentarier durch intensive, sachkundige Beratung unter Abwägung aller maßgeblichen Gesichtspunkte die bestmögliche Problemlösung finden können.

Vorhandenes Wissen nutzen

Das schließt nicht aus, dass Öffentlichkeitsbeteiligung auf dem Weg zu parlamentarischen Entscheidungen dazu beitragen kann, das in der Gesellschaft vorhandene Wissen nutzbar zu machen. Problematisch bleibt hier aber – wie in allen direktdemokratischen Prozessen – erhebliche Verzögerungen bei der Projektverwirklichung. Beispielsweise erfordern der Atomausstieg und der Ausbau der Versorgung mit erneuerbarer Energie die zügige Errichtung neuer Windenergieanlagen und Stromnetze.

Tempoverluste durch die zeitaufwendige Bildung von Bürgerräten und deren Beteiligung an den jeweiligen Umsetzungsmaßnahmen kann man sich hier schon angesichts des dramatischen Klimawandels nicht erlauben.

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