„Demokratie-Problem“Der durchschnittliche NRW-Bürgermeister ist Mann, weiß und hetero

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Vielfalt-Regenbogen

Eine Demonstration für Vielfalt vor dem Brandenburger Tor in Berlin. (Symbolbild)

Köln – Gelebte Vielfalt wird nicht nur in Unternehmen zunehmend wichtiger. Auch in der Politik wird die Kritik an der noch immer in Teilen drastischen Unterrepräsentanz von Frauen oder Menschen mit Migrationshintergrund immer lauter. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat daher eine Analyse zum Stand der Diversität auf der obersten Repräsentationsebene der Kommunalpolitik durchgeführt: Wie divers sind die 393 Bürgermeister und Bürgermeisterinnen in Nordrhein-Westfalen?

Das Bild, das unsere erhobenen Daten ergeben, spricht eine eindeutige Sprache: Der durchschnittliche NRW-Bürgermeister ist zu 85,7 Prozent männlich, in knapp 65 Prozent der Fälle älter als 50 Jahre, und zu 98 Prozent heterosexuell. Gerade einmal sechs Amtsträger bzw. Amtsträgerinnen haben einen Migrationshintergrund - umgerechnet also 1,5 Prozent.

Über die Ergebnisse der Analyse haben wir zudem mit dem Experten für Diversity Management und Diversitätspolitiken, Andreas Merx, gesprochen.

Herr Merx, Sie sind Experte für Diversity Politics und Diversity Management. Worum handelt es sich dabei genau?

Andreas Merx: Die Gesellschaft ist aufgrund von verschiedenen Faktoren wie unter anderem der Globalisierung oder Individualisierung von zunehmender Vielfalt geprägt. Die Organisationen, Unternehmen und Verwaltungen müssen Lösungen finden, um diese Diversität zu fördern und Diskriminierung abzubauen. Für bestimmte Gruppen gibt es ja schon länger Strategien, etwa das Gender Mainstreaming (für die Gleichstellung von Frau und Mann, Anm. d. Red.) oder die Interkulturelle Öffnung (um den Anforderungen durch Integration und Zuwanderung gerecht zu werden, Anm. d. Red.).

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Andreas Merx, Vorsitzender des Diversity-Fachverbands idm e.V, arbeitet seit über zehn Jahren zu den Themen Antidiskriminierung, Diversity, Integration, Interkulturalität und Migration.

Das Diversity Management bezieht jedoch die Tatsache mit ein, dass ein Mensch nicht nur einer Gruppe angehört, sondern meistens vielen gleichzeitig, daher werden verschiedene Strategien und Maßnahmen unter dem Dach Diversity stärker miteinander verbunden.

Die Daten aus unserer Analyse zu den NRW-Bürgermeistern zeigen, dass diese eklatant undivers sind. Mehr als 80 Prozent sind männlich, Menschen mit Migrationshintergrund sind kaum vertreten, Menschen mit Behinderung gar nicht. Wie bewerten Sie diese Daten?

Die Tendenz der Ergebnisse deckt sich mit Daten, die ich über die Diversität unter Stadträt*innen oder an der Verwaltungsspitze kenne.

Der Anteil der Bürgermeisterinnen ist immerhin gestiegen, auch wenn in NRW immer noch nur knapp 14 Prozent Frauen in die Position gelangt sind.

Die Strategie des Gender Mainstreaming wird bereits am längsten in den Verwaltungen umgesetzt, dort hat man auch schon viel erreicht.

In den mittleren und oberen Führungsebenen hat man heute in der Regel einen Frauenanteil von 30 bis 40 Prozent. Allerdings wird die Luft sehr viel dünner, wenn es nach ganz oben geht. Da haben wir sehr viel weniger Frauen, nämlich ungefähr diese zehn bis 15 Prozent, die auch Ihre Analyse ergeben hat.

Woran liegt das?

Die Verwaltung selbst ist eine sehr hierarchische und komplexe Organisation, die sehr viel Präsenz und eine allumfassende Arbeitszeit erfordert, vor allem auch bei den politischen Bürgermeister*innen-Ämtern mit den sehr vielen Außenterminen. Das war lange Zeit überhaupt nicht vereinbar mit einer Familie und es gibt weiterhin zu wenig Flexibilität und entsprechende Angebote der Verwaltungen für Führungskräfte.

Hinzu kommt, dass sich in den Verwaltungen über eine lange Zeit hinweg eine männliche Führungstradition etabliert hatte. Dadurch sind Netzwerke entstanden, in die Frauen weiterhin zum Teil nur schwer hineinkommen. Gleiches gilt auch für die Parteien.

Was auch auffällt ist, dass die Bürgermeisterinnen prozentual weniger häufig verheiratet sind und weniger häufig Kinder haben als ihre männlichen Kollegen.

Es gibt natürlich auch Frauen, die sich schon früh bis nach oben durchgekämpft haben, manche auch mit Kindern. Es gibt aber Studien, die zeigen, dass Männer in sehr hohen Positionen sehr wohl eine Familie und Kinder haben – Frauen oft nicht. Sie haben dann oft entweder keine Ämter, weil es sich für sie nicht vereinbaren lässt. Oder sie entscheiden sich gegen eine Familie.

Menschen mit Migrationshintergrund sind nur in verschwindend geringer Anzahl vertreten, an die Spitze der Verwaltung schaffen es in NRW der Auswertung nach nur 1,5 Prozent.

Die Kommunen sind im Bereich der interkulturellen Öffnung zwar bereits viel weiter, als die Landesregierungen oder gar die Bundesverwaltung. Trotzdem sehen wir nach wie vor: Ganz oben kommen die Menschen immer noch nicht an, obwohl es seit den 90er-Jahren gezielte Förderungen gibt.

In guten Azubi-Programmen haben heute 15 Prozent der Auszubildenden einen Migrationshintergrund, auf der Führungsebene hingegen sind es nach wie vor die kosmetischen ein bis zwei Prozent.

Worauf führen Sie diese extreme Unterrepräsentation zurück?

Lange Zeit waren die Verwaltungen für Menschen mit Migrationsgeschichte weder attraktiv noch wurden sie gezielt angesprochen. Hinzu kommt: Die erste Generation kam oft aus Ländern, in denen die eigene Verwaltung als korrupt gilt, daher wurden in der Folge oft andere Ausbildungen präferiert.

Ein Faktor sind außerdem Diskriminierungserfahrungen, die Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland mit Verwaltungspersonal gemacht haben. Etwa bei der Ausländer- oder Sozialbehörde, wenn es um die Bewilligung von Leistungen geht.

Und auf politischer Ebene? Liegt es am Wahlverhalten der Bürger, dass die Bürgermeister und Bürgermeisterinnen in NRW so wenig divers sind? Oder daran, dass bestimmte Personengruppen in den Parteien erst gar nicht aufgestellt werden?

Das ist z.T. ein innerparteiliches Problem. Ein großer Faktor sind auch die vorhin bereits erwähnten Netzwerke, die dazu führen, dass bestimmte Kandidat*innen gar nicht erst die Listenplätze bekommen. Selbst bei einer Partei wie den Grünen, die sich das Multi-Kulti-Schild seit drei Jahrzehnten umhängt, ist der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund unter Stadträt*innen, Bürgermeister*innen und anderen auf den obersten Ebenen weit unterdurchschnittlich.

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Gesellschaftlich wird eine größere Vielfalt in der Verwaltung auf allen Ebenen allerdings zunehmend eingefordert. Denn das ist ja vor allem eine Frage der demokratischen Repräsentanz. Die Veränderung vollzieht sich aber viel zu langsam.

Was muss denn passieren, um wirkliche Chancengleichheit zu erreichen?

Aus meiner Sicht müssten hier vor allem die Bundesregierung und die Bundesverwaltung viel stärker vorangehen. Auch durch gesetzliche Initiativen. Ich denke da an eine Verbesserung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes und an eine Grundgesetzänderung, die auch deutlich macht, dass gesellschaftliche Vielfalt in Verwaltungen und Unternehmen heute breiter zu fördern ist, als nur durch das Frauenfördergebot.

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Allein das Bundesarbeitsministerium hätte so viele rechtliche Möglichkeiten, Rahmenbedingungen für Vielfalt in Unternehmen stärker zu gestalten. Zudem müsste die Bundesverwaltung selbst mit gutem Beispiel vorangehen, denn die Bürger*innen begegnen dem Staat in Form von Verwaltung. Wenn die Vielfalt dort nicht sichtbar ist, dann ist das ein Demografiedefizit und ein Demokratie-Problem.

Inwiefern?

Die Demokratie wird momentan stark hinterfragt, wird angegriffen und bedroht. Vielfalt sehe ich als etwas, das nicht zu diskutieren ist, sie ist ein Fakt dieser Gesellschaft. Wenn wir damit nicht gut umgehen, wird das uns allen schaden. Wenn man wirklich die Breite der Gesellschaft erreichen will, muss auf verschiedensten Ebenen viel mehr passieren, um mehr gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und den sozialen Zusammenhalt zu stärken.

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