„Dies wird das endgültige Ende“Moskaus irre Träume von einer neuen Weltordnung und „Nürnberg 2.0“

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Der Vize des russischen Sicherheitsrates, Dmitri Medwedew, gehört zu den Vertrauten von Kremlchef Wladimir Putin. In einem hasserfüllten Essay versichert Medwedew nun: Die Ukraine soll nur der Anfang sein. (Archivbild)

Der Vize des russischen Sicherheitsrates, Dmitri Medwedew, gehört zu den Vertrauten von Kremlchef Wladimir Putin. In einem hasserfüllten Essay versichert Medwedew nun: Die Ukraine soll nur der Anfang sein. (Archivbild)

Die EU sei das „Vierte Reich“ und „zynischer als Hitler“, behauptet Dmitri Medwedew in einem Essay. Die Ukraine soll daher nur der Anfang sein.

Es sei „höchste Zeit, sich von allen bisherigen Illusionen sogenannter ‚Ostpolitik‘ zu lösen“, lautete der Schlusssatz einer kurzen Analyse von Matthäus Wehowski. „Russland legt seine Ziele sehr offen dar“, hatte der Russland-Experte zuvor bereits konstatiert. Moskau wolle nicht weniger als eine „vollständige Umwälzung der bestehenden globalen Ordnung“, so der Historiker. Anlass für die Wortmeldung bei X (vormals Twitter) war ein am Donnerstag auf der Webseite der Partei „Einiges Russland“ veröffentlichtes Essay des ehemaligen russischen Präsidenten Dmitri Medwedew.

Seit Kriegsbeginn spart der nunmehrige Sicherheitsratsvize nicht mit schrillen Worten, Atomdrohungen und Beleidigungen. Medwedews regelmäßige Wutausbrüche haben ihm im Netz längst den Ruf eines cholerischen „Suffkopps“ – und die entsprechenden Memes und Witzchen – eingebracht. Angesichts seiner Wortwahl fällt es leicht, Medwedew nicht allzu ernst zu nehmen.

Dmitri Medwedew: Treuer Gefährte von Wladimir Putin

Doch der langjährige Gefährte von Wladimir Putin gilt als enger Vertrauter des Kremlchefs. Dass Medwedew eine gänzlich andere Linie vertritt als Putin, gilt daher als unwahrscheinlich. Der Ex-Präsident und der amtierende dürften durchaus denselben Kurs verfolgen – sie wählen nur andere Worte, um ihn auszudrücken. Unter Medwedews Gepolter und Gezeter finden sich daher stets Hinweise auf Moskaus Motive und Ziele. Auch in den nun auf 45 Seiten veröffentlichten Ausführungen Medwedews.

„Der Text beginnt mit einer Umdeutung der Vergangenheit, vor allem der Geschichte des ‚Dritten Reichs‘“, erklärt Wehowski. Tatsächlich nutzt Medwedew dutzende Seiten seines Essays für den Versuch, dem Moskauer Märchen von einem „Nazi-Regime“ in der Ukraine ein Fundament zu verschaffen.

Essay von Dmitri Medwedew offenbart Moskaus Motive

Wolodymyr Selenskyj und seine ukrainische Regierung seien die „Zombieausgeburt, der ekelhafte und zynische Urenkel des Hitlerismus“, heißt es da. „Unsere ehemaligen Verbündeten aus dem Zweiten Weltkrieg füttern, bewaffnen und betreuen mit Begeisterung die neuen Nazis“, behauptet der Putin-Vertraute und unterstellt dem Westen die Organisation von Terroranschlägen.

„Washington und Brüssel agieren zynischer und weitreichender als Hitler und seine Gefolgsleute“, heißt es schließlich. Die Europäische Union ist für Medwedew derweil nicht weniger als das „Vierte Reich“. Es sei Russlands „historische Mission“, auch in der Gegenwart die „braune Pest“ zu besiegen und „endgültig zu vernichten“, führt er aus. Wenn „nötig“ müssten „gefährliche Zentren chirurgisch beseitigt“ werden, „ohne auf eine diplomatische Therapie zurückzugreifen“, heißt es weiter. Spielraum für die auch im Westen immer wieder laut werdenden Rufe nach Friedensverhandlungen bleibt da wenig.

Kein Spielraum für Verhandlungen: „Ohne diplomatische Therapie“

Doch mit dem angegriffenen Nachbarland begnügt man sich in Moskau laut Medwedew ohnehin nicht. Der Krieg gegen das „verwüstete Gebiet, das sich Staat Ukraine nennt“, sei nur der „erste, aber sehr wichtige Schritt auf einem langen und schwierigen Weg zu einer neuen Architektur der internationalen Beziehungen“, kündigt Medwedew an. „Dies wird das endgültige Ende des falschen Wertesystems der angelsächsischen Welt bedeuten.“

Dmitri Medwedew bei einer Rede. Hinter ihm prangt ein Bild von Kremlchef Wladimir Putin.

Dmitri Medwedew bei einer Rede. Hinter ihm prangt ein Bild von Kremlchef Wladimir Putin.

Für die „Führer des Kiewer Regimes“, aber auch für „westliche Rüstungskonzerne, Logistikunternehmen, Kreditinstitute und Geschäftsleute“ werde es „Nürnberg 2.0“ geben, droht Medwedew. Die Nürnberger Prozesse wurden nach dem Zweiten Weltkrieg gegen führende Nazi-Repräsentanten durchgeführt.

Mit der Veröffentlichung am 9. Mai, dem „Tag des Sieges“, gibt Medwedew nicht nur eindeutige Hinweise auf die Kriegsziele des Kremls, sondern stützt auch erneut das von Moskau entworfene Narrativ des vorgeblich „antifaschistischen Widerstands“ als Kriegsgrund.

Dmitri Medwedew stützt Wladimir Putins Märchen

Auch Kremlchef Putin hatte bei seiner Rede bei der jährlichen Militärparade in Moskau den Krieg gegen die Ukraine in direkte Kontinuität zum Zweiten Weltkrieg gesetzt, um die Erzählung vom erneuten heldenhaften Kampf gegen „Nazis in Kiew“ zu stützen. Mit der Realität hat die Erzählung von faschistischen Regierungen in Kiew, London und Washington freilich nichts zu tun.

Aber die Realität ist im Kreml ohnehin irrelevant. Schließlich wird wie bei der üblichen Geschichtsklitterung Putins auch in Medwedews Essay der Hitler-Stalin-Pakt, also die zwischenzeitliche Zusammenarbeit der Sowjetunion mit Nazi-Deutschland, mit keiner Silbe erwähnt.

Realität in Mosku irrelevant: Überall „Faschisten“

Vieles, was Medwedew dem Westen vorwirft, lässt sich zudem in der Gegenwart eigentlich eher über Russland sagen: „Neokoloniale Machenschaften“, „Erniedrigung ganzer Völker“, „kriminelle Geschäfte“, „Banditenvorstellungen“ – all das, mache die neuen „Faschisten“ im Westen aus, behauptet Medwedew. Währenddessen wird sein Chef, Wladimir Putin, per internationalem Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine gesucht. Wegen „neokolonialen Machenschaften“, „Banditenvorstellungen“ und der „Erniedrigung ganzer Völker“ könnte man fast sagen.

Angesichts der nicht enden wollenden „historischen“ Irrungen und Wirrungen, die Medwedew in seinem Traktat präsentiert, sei daher auch ein Griff in die Kiste der großen Zitate der Zeitgeschichte gestattet. Dem italienischen Schriftsteller Ignazio Silone wird ein solches zugeschrieben.

Wladimir Putins Russland: „Wenn der Faschismus wiederkehrt …“

„Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: Ich bin der Faschismus. Nein, er wird sagen: Ich bin der Antifaschismus“, lautet der Satz, den der Italiener laut einem Buch von Francois Bondy aus den 1970er Jahren einst gesagt haben soll. Silone hatte offensichtlich recht damit.

Die als Antifaschisten verkleideten Tyrannen der Gegenwart scheinen ihren Weg vorerst gewählt zu haben – es ist kein diplomatischer. Russlands Armee werde „ohne Rücksicht auf irgendwelche idiotischen Friedensinitiativen mit der Säuberung ‚Kleinrusslands‘ fortfahren“, hatte Medwedew bereits in der letzten Woche erklärt. Illusionen helfen da tatsächlich nicht mehr. 

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