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Eklat in JerusalemGenozid-Vorwurf gegen Israel in christlichem Gottesdienst empört NRW-Delegation

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Adelheid Ruck-Schröder, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen Jens Schulze

Adelheid Ruck-Schröder, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen

Im Interview warnt die Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Adelheid Ruck-Schröder, davor, das Wort Genozid als Kampfbegriff zu verwenden.

Frau Ruck-Schröder, Sie waren in Begleitung von NRW-Landtagspräsident André Kuper Teil einer Delegation, die vor wenigen Tagen Israel und das Westjordanland besucht hat. In einem evangelischen Gottesdienst zum Reformationstag bezeichnete der lutherische Bischof für das Heilige Land, Sani Ibrahim Azar, das Vorgehen Israels gegen die Palästinenser als „Genozid“. Daraufhin verließ der mitgereiste Vizepräsident des Zentralrats der Juden, Abraham Lehrer aus Köln, aus Protest die Erlöserkirche in Jerusalem. Ein Eklat mit Ansage – angesichts der aufgeheizten Stimmung im Land?

Für uns als deutsche Delegation war das eine katastrophale Situation. Wir waren als Gäste in den Gottesdienst eingeladen. Ich war schon im Vorfeld unserer Delegation gebeten worden, ein kurzes Grußwort zu sprechen. Erst in der Sakristei habe ich erfahren, dass Bischof Azar predigen würde. Was er zu sagen beabsichtigte, wusste ich nicht. Ich habe dann spontan darauf reagiert.

Wie?

Indem ich ausgesprochen habe, dass die Rede von einem „Genozid“ in der Predigt des Bischofs für Abraham Lehrer – und nicht nur für ihn – empörend war und dass er deshalb der Feier nicht weiter beiwohnen wollte. Andernfalls wäre für viele Teilnehmer ja überhaupt nicht klar gewesen, was da gerade passiert war.

Gerade wir als Deutsche können nicht darüber hinweggehen, wenn von einem israelischen Genozid gesprochen wird.
Adelheid Ruck-Schröder, Präses der Ev. Kirche von Westfalen

Sie haben sich anschließend bei Abraham Lehrer entschuldigt und von einem „Skandal“ gesprochen. Dafür werden Sie jetzt im Gegenzug selbst scharf kritisiert.

Als Mitfeiernde und als Christin habe ich mich gegenüber Abraham Lehrer mitverantwortlich gefühlt für das, was da passiert ist. Im Gottesdienst waren zudem Vertreter der deutsch-israelischen Gesellschaft anwesend und die SPD-Staatssekretärin Kerstin Griese, die Ratsmitglied der EKD ist. Es ist doch klar, dass gerade wir als Deutsche nicht darüber hinweggehen können, wenn von einem israelischen Genozid gesprochen wird. Ich fand es völlig inakzeptabel,  in einem Gottesdienst eine Situation zu schaffen, in der sich der einzige jüdische Vertreter unserer Delegation genötigt sah, den Gottesdienst zu verlassen. Man muss ja auch sehen: Herr Lehrer hat als Jude einen christlichen Gottesdienst mitgefeiert. Das fand ich ein sehr schönes, berührendes Zeichen, zumal am Reformationstag besonders an Martin Luther erinnert wird, dessen Aussagen über das jüdische Volk heute schwer zu hören, wenn nicht unerträglich sind – speziell für Jüdinnen und Juden.

Abraham Lehrer hat mit der gesamten Delegation auch an den Gesprächen mit christlichen Palästinensern teilgenommen. Gab es da vergleichbar kritischer Situationen?

Die palästinensische Bevölkerung im Westjordanland, unter ihnen eine christliche Minderheit, ist schlimmen Angriffen militanter jüdischer Siedler ausgesetzt. In dem von Christen bewohnten Dorf Taybeh, das wir besucht haben, haben Siedler in der Nähe der Kirchenruine St. Georg Feuer gelegt und die Bauern an der Olivenernte gehindert. Diese Schilderungen hat unsere gesamte Delegation sehr aufmerksam und anteilnehmend verfolgt.

In meinem Grußwort im Gottesdienst habe ich an den Synodalbeschluss der Evangelischen Kirche im Rheinland von 1980 erinnert, in dem es heißt: Die Existenz des Staates Israel ist nach dem Holocaust ein Zeichen der Treue Gottes. Für mich ist dieser Satz extrem wichtig. Heute ist auch die Existenz der Minderheit christlicher Palästinenser, die unter dramatischen Bedingungen leben, ein Zeichen der Treue Gottes. Wir sehen ihr Leiden. Aber wir wissen auch um die jüdischen Opfer des mörderischen Hamas-Terrors.

Ich halte nichts davon, den Ausdruck ‚Genozid‘ als Kampfbegriff einzusetzen.
Adelheid Ruck-Schröder, Präses der Ev. Kirche von Westfalen

Den umstrittenen Begriff „Genozid“ verwenden auch Politiker in Europa. Halten Sie das generell für falsch – oder nur in der besonderen Situation dieses Gottesdienstes aus dem Mund eines Bischofs?

Ich glaube, niemand kann bestreiten, dass es im Gaza-Krieg zu Verletzungen des Völkerrechts und der Menschenrechte gekommen ist. Das war auch in den Gesprächen deutlich, die wir in Israel geführt haben. Ich halte aber nichts davon, den Ausdruck „Genozid“ als Kampfbegriff einzusetzen – schon gar nicht aus deutscher Perspektive. Wir haben auf unserer Reise auch Yad Vashem besucht, wo des Völkermords der Nationalsozialisten an den europäischen Juden gedacht wird. Man sollte ein und denselben Begriff nicht umstandslos für die doch sehr verschiedenen Geschehnisse damals und heute verwenden.

Verstehen Sie denn nach den Eindrücken auf Ihrer Reise die Verzweiflung der Palästinenser, dass sie dann zu solchen Ausdrücken kommen?

Ich verstehe die Verzweiflung der Palästinenser. Punkt. Ich kann auch verstehen, dass palästinensische Christen sagen, was wir erleben, fühlt sich für uns wie ein Genozid an. Ich würde ihnen dieses Wort nicht verbieten – wie könnte ich? Aber wir müssen auch darauf bestehen, dass es aus deutscher Perspektive und des christlich-jüdischen Dialogs unpassend ist. Erst recht in einer Predigt, in der es in keiner Weise eingeordnet war.

Ich verstehe auch die Verzweiflung von Juden.
Adelheid Ruck-Schröder, Präses der Ev. Kirche von Westfalen

„Unpassend“?

Und nach meinem Verständnis auch falsch. Ich kann nicht sehen, dass der Staat Israel beziehungsweise die amtierende Regierung die Palästinenser als Volk ausrotten will. Schlimm genug, dass im Gaza-Krieg der Tod so vieler palästinensischer Zivilisten billigend in Kauf genommen wurde. Aber das ist etwas anderes als das, was im Begriff des Genozids enthalten ist.

Ich verstehe nämlich auch die Verzweiflung von Juden. Wir als Christenmenschen sollten Brücken bauen, Orte der Friedfertigkeit eröffnen. Kampfbegriffe wie „Genozid“ tun das Gegenteil. Das muss allen klar sein, die so sprechen. Und wenn sie glauben, sie müssten das tun, dann am rechten Ort, zur rechten Zeit – und immer mit der Möglichkeit zur Gegenrede.

Wir haben gespürt, wie groß auf beiden Seiten die Sehnsucht nach Frieden ist.
Adelheid Ruck-Schröder, Präses der Ev. Kirche von Westfalen

Wie haben Sie die Stimmung mit Blick auf die Waffenruhe im Gazastreifen wahrgenommen?

Der Funke der Hoffnung auf einen Bestand der immer noch sehr fragilen Waffenruhe ist klein, aber lebendig. Wir haben gespürt, wie groß auf beiden Seiten die Sehnsucht nach Frieden ist. Die christlichen Palästinenser, mit denen ich gesprochen habe, haben alle gesagt: „Wir wollen nichts anderes, als in Frieden unser Leben führen.“ Genau so haben wir es von den jüdischen Gesprächspartnern gehört. Zum Beispiel am „Peres Center for Peace“, wo sie nie aufgehört haben, mit Kindern und Jugendlichen – arabischen, jüdischen und ein paar christlichen – in Friedensprojekten das Miteinander einzuüben, das Fairplay, etwa beim gemeinsamen Sport.

Was haben Sie dazu gehört, dass die Bundesregierung ihre Kritik am Agieren der israelischen Regierung verschärft und auch Waffenlieferungen an Israel teilweise ausgesetzt hat?

In Israel herrscht die klare Haltung vor, dass Deutschland eines der wenigen Länder ist, die überhaupt noch die Perspektive Israels verstehen. Dafür gab es einhellig Dank – und die Bitte, die gewachsenen deutsch-israelischen Beziehungen unbedingt weiter zu pflegen.

Was ist am Ende dieser Reise Ihre zentrale Erkenntnis oder Ihre Botschaft?

Dass man sich bei uns in Deutschland tatsächlich keine Vorstellung macht, wie fragil die Waffenruhe ist und was das für die Menschen in Israel und in den palästinensischen Gebieten bedeutet. Sie theoretisieren darüber nicht und fragen auch nicht, mit welchen Begriffen diese oder jene Situation nun zutreffend beschrieben sei. Sondern sie sind in ihrem Alltag unablässig gefordert. Auch dazu, mit eigenen kleinen Schritten Wege zu einem Frieden zu gehen. Die Hoffnung, dass es dazu kommen möge, war jedenfalls mit Händen zu greifen.

Haben Sie über den Trümmern, über den Gräbern Ansätze von Versöhnungsbereitschaft wahrgenommen?

Ich glaube, das Wort Versöhnung ist zu groß. Noch. Es geht jetzt erstmal um ein friedliches Miteinander. Und das ist schwierig genug. So schwierig, dass wir im Ausland mehr zuhören und uns um ein besseres Verstehen bemühen sollten, als ständig hineinzureden.