Europa-Reise: Flüchtlingscamp Calais„Ohne diese Hoffnung hältst du das nicht durch“

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Evakuierungscamp Dschungel in Calais_dpa

24. Oktober 2016: Die Räumung des als "Dschungel" bezeichneten Flüchtlingslagers beginnt.

  • Vor der Europa-Wahl ist unser Reporter Jonah Lemm eine Woche lang durch Europa gereist, auf der Suche nach dem, was Europa zusammenhält.
  • Seine zweite Station führt ihn ins Flüchtlingscamp im französischen Calais, das offiziell geräumt ist. Das ist aber nicht die ganze Wahrheit.
  • „Alle denken, Calais sei vorbei. Aber es ist noch schlimmer geworden”, sagt ein Flüchtlingshelfer.
  • Im „Dschungel“ lernt Jonah Lemm das bewegende Schicksal der Menschen kennen, die alle nur ein Ziel haben.

Calais – Im Dschungel spielen sie den ganzen Tag lang Dame. Sam, 18, seit zwei Monaten hier, noch das Gesicht eines Jungen, aber das Kreuz eines Mannes, schiebt einen Stein über das Brett. Sand oder Erde oder Dreck, irgendwas darunter knirscht, hat die Farbe der Spielfelder schon beinahe unsichtbar gekratzt. Zwei Mal, sagt Sam, hat er heute schon gewonnen, erst gegen Ken, zwei zu null. Dann sogar vier zu null. Gegen einen Afghanen aus einem anderen Camp, der kam, weil sie dort nicht einmal Brettspiele haben. Dafür haben sie Straßenkatzen. Sechs Stück, sie halten sie in einem Karton im Zelt. Sam darf manchmal hin, um sie zu streicheln. Heute aber spielt er den ganzen Tag lang Dame. „Heute bin ich der Weltmeister“, sagt Sam. Nur die Welt interessiert das nicht.

Alles was brennt wird ins Feuer geworfen

Im Dschungel brennt es den ganzen Tag. Der Rauch stinkt und tut in den Augen weh. Styroporboxen, kaputte T-Shirts, alte Zeitungen. Sie werfen hier wirklich alles ins Feuer, was herumliegt, sobald das Holz ausgeht. Hauptsache die Flammen gehen nicht aus. Ken, 30, seit einem Monat hier, wärmt seine Füße. Er hat keine Schuhe mehr. Die Polizei habe sie ihm weggenommen, gestern Nacht. Jetzt am Tag, schreit Ken, als müsse man ihn kennen, in sein Telefon: „Hello, this is Ken.“ Sein Handy hat noch Tasten, aber ein paar fehlen schon. „I need shoes, I don’t have anymore.“ Nach ein paar Sekunden legt er auf. Schuhtag, hat ihm die freiwillige Helferin am Telefon gesagt, sei erst morgen wieder.

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Im Dschungel kennen sie nur zwei Wege nach draußen. Der eine ist eine Hauptstraße, sie führt hinunter bis zur Universität. Der andere liegt da, so still als hätte man ihn erschossen und einfach zurückgelassen, an einem Stacheldrahtzaun neben einem Fertigbeton-Werk. Die immerweißen Silos überragen die Baumkronen, Mahnmal des Stillstands, Wegweiser der Aussätzigen. Von hier sind es nur ein Kilometer bis zum Meer, ein bisschen mehr als zwei zu den Lkw. Aber die Trucks sind zu gut bewacht. Die Polizei benutzt Spürhunde und C02-Detektoren. Gestern hätten es 30 per Gummiboot rübergeschafft, erzählen sie sich hier. 220 haben dasselbe laut BBC zwischen November und Dezember vergangenen Jahres zumindest versucht. Sam will das auch bald. Was ist schon der Ärmelkanal gegen das Mittelmeer?

Kampf ums Überleben

Sam hat über die Jahre viel verloren, Kleidung, Geld, Unterlagen. Seine Musikbox aber nicht. Er trägt sie immer am Körper. Ein Mann singt „I will fight to survive“ aus der Membran, Sam steigt ein. Das ist das wichtigste, sagt er, fight to survive. Ohne diese Hoffnung, sagt er, hältst du das nicht durch. Den ganzen Tag ohne Beschäftigung, in der Nacht zwei, wenn’s gut läuft drei Stunden Schlaf, weil du doch wieder am Hafen wartest, wieder erwischt wirst, zum 20. Mal. Ohne Hoffnung bist du verloren, sagt Sam, ohne Hoffnung und ohne Gott. „Nur so überleben wir hier, im neuen Dschungel.“

Räumung Flüchtlingslager Calais 2016_dpa

Vor der Räumung im Oktober 2016 steckten Flüchtlinge ihre Zelte in Brand.

Es war der 26. Oktober 2016, als das, was der einzige Dschungel in der Geschichte von Calais bleiben sollte, vollständig geräumt wurde. Eine illegale Zeltstadt auf dem Gelände einer ehemaligen Mülldeponie nahe dem Hafen. Gut 6500 Menschen lebten zuletzt dort, zwischenzeitlich waren es über 8000. Flüchtlinge auf der Durchreise, von der Grenze gelähmt. Glaubt man Zahlen von freiwilligen Hilfsorganisationen, starben innerhalb von weniger als zwei Jahren mehr als 40 Menschen bei dem Versuch, über Calais nach England zu kommen. Nachrichtenteams aus Europa, den USA, Asien berichteten. Der Dschungel wurde Sinnbild der Migrationswelle von 2015.

Illegale Flucht über Calais

Eigentlich sollte es eine Woche dauern. Aber die über 1000 Polizisten brauchten doch nur zwei Tage, um alle Flüchtlinge aus dem Lager zu bekommen. Sie setzten sie in 170 Busse. Die brachten die Migranten in 160 verschiedene Aufnahmezentren, in ganz Frankreich verteilt, teilweise sechs Stunden Fahrtzeit entfernt. Der alte Dschungel brannte zum Abschied, ein paar hatten vor dem Transport ihre Zelte angesteckt. Das Gelände wurde mittlerweile zum Naturschutzgebiet erklärt. Betreten verboten.

Jazz wabert durch den heruntergekommenen Container, den Josh sein Büro nennt. Kaputte Regale stehen voll mit Leitz-Ordnern, Plastiktüten, Schnellheftern. An der Wand ist mit Klebestreifen ein Stadtplan befestigt, rote Schnüre führen darauf zu verschiedenen Orten.„Hospital“ steht am Ende eines Fadens, „Help Services“ an einem anderen. Josh, Brite, 28, seit drei Jahren hier, ist „Manager“ der Hilfsorganisation „Help Refugees“. In Calais haben sie für 6000 Euro im Monat zwei alte Lagerhalle angemietet, sein Bürocontainer ist gleichzeitig sowas wie das Sekretariat. Es gibt hier noch eine Küche, in der täglich 1400 Mahlzeiten gekocht werden, einen Hinterhof, auf dem sie Feuerholz hacken, eine Kleiderkammer, in der sich alte Markenkleidung stapelt. Vor dem Eingang stehen vier weiße VW-Busse, mit denen sie sich durch die Stadt fahren.

Noch im Winter 2016 kamen sie wieder. Seit 20 Jahren hat Calais ein Problem mit illegalen Migranten und allein das zeigt: Wegrenovieren hilft nicht. Mittlerweile leben wieder 500 Flüchtlinge in der Stadt, 150 von ihnen sollen minderjährig sein. Doch da ist nicht nur die Zahl, noch etwas ist anders, seit dem 26. Oktober 2016. Der Dschungel bewegt sich.

Der Dschungel als Rand der Gesellschaft

Joshs Finger fährt über die Karte, bleibt auf einer kleinen Straße im Industriegebiet am Ende der Stadt liegen, rechts und links daneben leere Flächen. Karten-Nichts heißt in Calais: Wald. „Hier ist gerade das größte Camp.“ 200 Menschen würden dort leben. „Die Flüchtlinge wurden nach dem Dschungel an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Weiter geht es nicht“, sagt Josh. Noch weiter wäre das Meer. „Alle denken, Calais sei vorbei. Aber es ist noch schlimmer geworden. Nur nicht mehr so offensichtlich.“ Die Flüchtlinge leben nun in den Büschen, weit weg vom Zentrum, versteckt, tagsüber so unsichtbar, wie es geht. Die Trupps der Ordnungsbehörden, so erzählt Josh es, kommen am frühen Morgen, jeden zweiten Tag. Wenn sie ein Camp finden, nehmen sie Handys, Schlafsäcke, Kleidung an sich. Werfen sie weg.

Sie zwingen die Bewohner, ihre Zelte ab- und zehn Meter weiter wieder aufzubauen. Manchmal finden Josh und seine Kollegen später leere Behälter auf den Feldern. Dann wurde Tränengas eingesetzt.

Extreme Polizeigewalt bei Zwangsräumungen

Josh ist nicht der Einzige, der von dieser Art extremer Polizeigewalt in Calais erzählt. Immer wieder berichten Hilfsorganisationen und Medien von brutalen Zwangsräumungen der Lager. Laut einer Befragung des „Refugee Rights Data Project“ sind 89 Prozent der Flüchtlinge in Calais schon einmal von der Polizei angegriffen worden. Unter den Minderjährigen waren es 97 Prozent. „Es soll um jeden Preis verhindert werden, dass wieder ein Fixpunkt entsteht, eine Stabilität im Leben der Flüchtlinge“, sagt Josh. Der Dschungel ist jetzt viele.

Eine Woche später wird Josh per Mail ein Video schicken, sie haben bei „Help Refugees“ eine eigene Whatsapp-Gruppe, in der sie eigens Überbegriffe von Sicherheitskräften auf Flüchtlinge dokumentieren. Der Clip ist zehn Sekunden lang. Man sieht einen Schwarzen, der zwischen zwei Lkw rennt. Zwei Männer in Uniform hinterher. Sie schlagen ihn mit einem Knüppel, erst in die Nieren, dann gegen den Kopf. „Nur ein Beispiel“, schreibt Josh dazu. Vor dem Dschungel werben sie für Neubauten. „Ein Familienbesitz unter Platanen. Die letzten erschlossenen Grundstücke hier“, steht auf einem Plakat.

Drei Regeln im Camp

Ich bin allein, es waren 50 Minuten Fußmarsch von Joshs Büro hierher, er konnte nicht mit. Gestern habe einer der Flüchtlinge einen Helfer angegriffen. Eigentlich ein Netter, sagt Josh, aber wohl mit psychischen Problemen. Deswegen schicke er heute niemanden ins Camp. Aber wenn ich mich an seine drei Regeln halte, gehe schon alles gut. Erstens: keine Kameras. Zweitens: freundlich sein. Drittens: immer auf der Straße bleiben.

Josh in Calais

Josh: „Es ist noch schlimmer geworden. Nur nicht mehr so offensichtlich.“

Die Rue des Huttes ist mehr Schneise als Straße, kaum noch Asphalt, viel plattgetretene Erde. Links und rechts kapituliert das, was mal Hecke war, vor dem Unkraut. Einmal in der Stunde hält hier ein Bus. Jetzt gerade hält hier nichts. Drei Männer sitzen auf der Fahrbahn. Und sehen nicht so aus, als warteten sie darauf, einem weißen Journalisten mit Wanderrucksack ihr Leben nachzuerzählen. Also stehe ich da, am Eingang der Rue des Huttes und weiß nicht weiter. Was nun? Einfach hinein? Abwarten? Wieder umdrehen? Ich tue das, was ich immer tue, wenn ich nicht weiter weiß: Rauchen. Und das hilft tatsächlich. Zwei, die gerade zurückkommen, sprechen mich an. Ob ich eine Zigarette hätte? Ich habe, ziehe eine Kippe aus der Schachtel, versuche mich auf Englisch zu erklären. Verstehen sie nicht. Aber dass ich Journalist bin, das verstehen sie schon. „Come“, sagt einer der Männer.

Am Anfang der Straße steht Izzy, halb Britin, halb Libanesin, sie spricht mit einigen Männern arabisch. Izzy ist Mitarbeiterin in Joshs Organisation, sie hat mich schon am Vormittag gesehen, erkennt mich wieder. Klar, eigentlich sollte sie heute nicht hier sein, sagt sie. Aber die Katze. Izzy hält sie im Arm, ein Junges, sie war mit ihm beim Tierarzt, bringt es nun zurück zu den Afghanen. „Nimmst du mich mit in die Stadt, Izzy?“ ruft ein Mann ohne Schuhe. „Nein, aber hier ist ein deutscher Journalist, der mit dir sprechen will.“

Keine Perspektive mehr in der Heimat

Ken kommt aus Nigeria und wollte weg, weil er keine Perspektive mehr in seiner Heimat sah, sagt er. Seit dem 11. Juni 2017, so erzählt er es, ist er unterwegs. Zwei Monate in Libyen. Da behandeln sie dich wie einen Gefangenen, sagt Ken, eine Woche hatte ich nichts zu essen. Dann übers Mittelmeer. Seenot. Eine deutsche Organisation holte ihn aus dem Wasser. Drei Monate in Perugia, Italien, weiter nach Rom, Mailand, Ventimiglia, Nizza, Marseille. Alles mit dem Zug. Dann Paris. Jetzt Calais. Ken will nach England – wie alle hier. Ken will Bankangestellter werden. Nigeria gilt in Großbritannien als sicheres Herkunftsland.

Sam hört auf, mit einem Fußball hochzuhalten und setzt sich dazu. Er würde auch gern sprechen. Sam kommt aus Gambia. Eines Tages, sagt Sam, fiel sein Vater, ein Bauarbeiter, auf den Kopf. Seine Familie hatte kein Geld für einen Arzt und der Vater starb. Dann hatte seine Familie auch kein Geld mehr für Sams Schule und Sam nahm zwei Freunde und lief los, in Richtung des Orts, an dem er glaubte, ein besseres Leben zu finden. Ein Monat Libyen. Sie sperrten ihn und die Freunde ein, irgendwann holten sie alles aus der Zelle. Habt ihr Geld?, fragten sie. Sie hatten keins. Also erschossen sie einen von ihnen. Beim nächsten Hofgang rannte Sam davon, zur Küste. Auch er – Seenot. 190 waren auf dem Boot. 30 wurden gerettet.

Ein Jahr Lampedusa. Zwei Monate Paris. Obdachlosigkeit. Er spricht kein Französisch. Sie sagen: Wenn du kein Französisch sprichst, geh weiter. Also geht Sam weiter nach Calais. Jetzt ist er hier. Seine Mutter und seine Schwester sind noch in Gambia. Sie wissen nicht, ob er noch lebt, er kann sich keine Sim-Karte leisten. Seit vier Monaten hat er sie nicht gesprochen.

England als Ziel

Ich weiß nicht, ob ich das alles glauben kann oder soll, es gibt Behörden, die in stundenlangen Gesprächen mit Flüchtlingen diese Geschichten versuchen auf Korrektheit zu prüfen. Ich weiß nur, dass ich verdammt traurig werde, wenn ich zwischen diesen Menschen sitze, die kaum noch etwas haben, kein fließendes Wasser, keine Medikamente, nicht einmal Privatsphäre. Die jede Nacht in teilweise zerrissenen Zelten schlafen, auf einem Boden, der von Giftmüll und deshalb von Arsen zerfressen sein soll. Die bereit sind, absurde Risiken, viel größere als es je in meinem Leben gab, hinzunehmen, nur um nach England zu kommen. Während ich meinen Fährenpass für den nächsten Morgen schon gekauft habe, drei Klicks, 34 Euro per Online-Banking. Und die mir trotzdem ihr Essen anbieten, als wäre das selbstverständlich. Im Gegenzug fragen Ken und Sam mich während meines Besuchs regelmäßig nach Zigaretten, alle hier tun das, ich lege meine Schachtel offen in die Mitte. Andere Männer, die nicht in dieser Geschichte vorkommen, fragen, ob ich ihnen zehn Euro für Handy-Guthaben geben, ihnen meine Bauchtasche schenken könne. Ich sage Nein. Sie verstehen das nicht. Natürlich könnte ich. Aber ich bin Journalist und es ist schwierig genug, sich hier nicht dem eigenen Mitgefühl zu ergeben.

„Es geht um die Menschenrechte“

Und weil ich als Journalist objektiv sein will, gebe ich den Männern weder zehn Euro noch meine Bauchtasche. Aber weil das hier auch ein Ich-Text geworden ist, verlasse ich kurz diese Illusion des neutralen Beobachters und sage: Dafür, dass Menschen hier, in den reichsten Ländern der Erde, so leben müssen, nur weil sie nicht hier geboren wurden, dafür sollten wir uns alle mindestens schämen. Ganz egal, ob ihre Geschichten stimmen oder nicht. Darum geht es auch gar nicht. Es geht um das, was unseren Kontinent zusammenhalten soll: Menschenrechte. Und jeder, der noch einmal von „Asyltourismus“ oder „Je mehr man rettet, desto mehr kommen doch“ spricht, der soll nur eine Nacht versuchen, so zu leben wie Ken oder Sam oder die 198 anderen in diesem Camp. Ich bezweifle, dass er es durchhält. Ja, wir haben eine Flüchtlingskrise. Aber der Missstand, das sind nicht die, die kommen. Das sind wir, die diese Menschen sich selbst überlassen, bis sie keine Hoffnung mehr haben.

Ein weiterer Bewohner kommt zu uns an das Feuer. In diesem Text soll er Thomas heißen. „Bist du einer von uns, Bruder?“, fragt Thomas. „Nein, aber ich glaube, ich helfe euch. Irgendwie“, sage ich. „Der einzige Weg, wie du mir helfen kannst, Bruder, ist, wenn du mich dahin bringst.“ Er zeigt auf meine Turnschuhe. Im Markenlogo ist die Flagge des Vereinigten Königreichs eingestickt.

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