Ex-Ministerpräsident wird 70Aufstieg und Fall des Jürgen Rüttgers

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Rüttgers

Jürgen Rüttgers wird 70. Die CDU lädt zu einem Empfang in die Abtei Brauweiler ein.

Pulheim – Jürgen Rüttgers hatte schon als junger Mann eine klare Vorstellung davon, wann die Grenzen des Anstands überschritten sind. Als die CDU im Kommunalwahlkampf 1969 in Pulheim so forsch war, ein Großplakat auf dem Gelände der Abtei Brauweiler aufzustellen, musste eine Reaktion erfolgen. „Die Pfadfinder haben sich am späten Abend getroffen und das Ding umgelegt“, berichtet der frühere Ministerpräsident lachend. Damals war er 18 Jahre alt.

Rüttgers sitzt entspannt auf einem Salonstuhl im Äbtesaal, dem früheren Audienz- und Besprechungsraum der Benediktinerabtei, und plaudert darüber, wie es dazu kam, dass er Politiker wurde. Trotz des Eklats – die Pfadfinder waren ausgerechnet vom Fraktionschef der örtlichen CDU, der mit seinem Hund Gassi ging, auf frischer Tat erwischt worden - trat er kurze Zeit später in die CDU ein. Bernhard Worms, der später zu einem väterlichen Freund und Mentor wurde, hatte den Schüler zu Hause besucht und überzeugt.

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Am 26. Juni wird der CDU-Politiker 70 Jahre alt. Es ist unterhaltsam, mit dem Mann aus Pulheim über sein bewegtes Leben zu sprechen. Nur wenige können Zeitgeschichte so lebendig erklären wie der frühere Ministerpräsident.

Am 9. November 1989 hatte Rüttgers Bereitschaftsdienst

Rüttgers war Forschungsminister im Kabinett von Helmut Kohl und ein Duz-Freund des Kanzlers der Einheit. Er hatte als parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Fraktion im Bundestag Bereitschaftsdienst, als am Abend des 9. November 1989 überraschend die Mauer fiel. „Damals gab es ja noch keine Handys. Ich musste anrufen und eine Sekretärin eindringlich bitten, den damaligen Kanzleramtschef Rudolf Seiters für eine Stellungnahme aus einer Sitzung zu holen.“ Helmut Kohl sei an dem Abend in Warschau und somit nicht greifbar gewesen.

„Vordenker, Vorkämpfer und und Brückenbauer"

Rüttgers ist der Sohn eines selbstständigen Elektromeisters. Sein Elternhaus war in der Kirchengemeinde fest verankert und hat die soziale Ader des CDU-Politikers entscheidend geprägt. 2005 schreibt Rüttgers Geschichte, als es ihm gelingt, die Regierungszeit der SPD in NRW nach 39 Jahren zu beenden. „Jürgen Rüttgers ist ein Vordenker, Vorkämpfer und Brückenbauer. Er führte die CDU Nordrhein-Westfalen zu neuer Stärke und unser Land als Ministerpräsident zu neuen Ufern“, sagt der heutige Chef der NRW-CDU, Armin Laschet.

Auch für den politischen Werdegang des Kanzlerkandidaten der CDU spielt Rüttgers eine Schlüsselrolle. Als Rüttgers ihn bittet, als Integrationsminister in sein Kabinett zu wechseln, war Laschet gerade erst in seine zweite Wahlperiode als Europaabgeordneter gestartet. „Ich gebe zu: ich habe damals gezögert zuzusagen. Es ist dem politischen Gespür und der Überzeugungskraft von Jürgen Rüttgers zu verdanken, dass ich schließlich den Weg in die Landespolitik eingeschlagen habe“, erklärt Laschet: „Jürgen Rüttgers hatte immer den Blick für das das große Ganze. Dafür bin ich ihm bis heute dankbar.“

Wahlsieg sorgte für Aufbruchstimmung 

NRW-Justizminister Peter Biesenbach kennt Jürgen Rüttgers bereits aus gemeinsamen Tagen in der Jungen Union. Auch er erinnert sich besonders gerne an die Landtagswahl 2005: „Es herrschte eine unglaubliche Aufbruchstimmung und wir verspürten einen ebenso unglaublichen Rückenwind. Bei einer Million Arbeitslosen, einer Verschuldung von mehr als 100 Millionen Euro und einem Unterrichtsausfall von fünf Millionen Unterrichtsstunden war eine CDU/FDP-Regierung die Hoffnung für eine bessere Zukunft.“

Als Regierungschef von NRW bleibt der frühere Zukunftsminister der Wissenschaft eng verbunden. „Sowohl bei der Einführung des Hochschulfreiheitsgesetzes, der gezielten Förderung von Spitzenforschung wie dem Ausbau der Hochschulen war auf die wohlwollende Unterstützung des Ministerpräsidenten stets Verlass“, sagt Andreas Pinkwart (FDP), Forschungsminister im Kabinett von Rüttgers. Der Chef sei immer zugleich „Politikmacher und Politikerklärer“ gewesen. Eine Übersicht aller Publikationen, die Rüttgers bislang veröffentlicht hat, umfasst mittlerweile 25 Seiten. „Der Zielstrebige“, lautet die Überschrift eines Kapitels über Rüttgers in einem Bildband der NRW-CDU zur Geschichte der Landtagsfraktion.

Rüttgers konnte auch gut mit den Grünen

Rüttgers ist ein Mann, der neue Wege geht. Sylvia Löhrmann, Fraktionschefin der Grünen von 2005 bis 2010, hatte einen guten Draht zum CDU-Vorsitzenden von NRW. „In der Sache haben wir uns ordentlich gefetzt, der Umgang war aber stets von Respekt geprägt, auch und gerade in vertraulichen persönlichen Gesprächen. Schwarz-Grün war zur damaligen Zeit ja vielen noch höchst suspekt.“ Thomas Kutschaty, Chef der SPD im Landtag, weist darauf hin, Rüttgers habe viel dazu beigetragen, die Erinnerung an den Holocaust vor allem bei der Jugend wachzuhalten. Dafür gebühre ihm „großer Dank und Anerkennung“.

Kampf um Arbeitsplätze im Ruhrgebiet

Rüttgers suchte auch den Schulterschluss mit den Arbeitnehmern. Mit der Schließung von Unternehmen wie Nokia in Bochum, Opel-Standorten oder Zuliefer-Betrieben mit Sitz in den Ruhrgebietsstädten wollte er sich nicht abfinden. „Jürgen Rüttgers hat um den Erhalt jedes einzelnen Arbeitsplatzes gekämpft“, erinnert sich Thomas Kufen, Chef des CDU-Bezirks Ruhr. Im Kohlekompromiss habe sich der Ministerpräsident für ein sozialverträgliches Ende der Steinkohle-Förderung eingesetzt. Deshalb bleibe Rüttgers vielen Menschen „als Kümmerer in Erinnerung“, sagte der Oberbürgermeister der Stadt Essen.

Seine Lieblingsgerichte  sind Bratkartoffeln und Nudeln 

Rüttgers starker Rückhalt ist die Familie. Das Angebot, Botschafter im Vatikan zu werden, lehnt er ab, weil er seinen Lieben den Umzug nach Rom nicht zumuten will. Er isst gerne Bratkartoffeln und Nudeln, zubereitet von seiner fröhlichen Frau Angelika. In seiner Freizeit erledigt er viele Reparaturen selbst und braucht im Baumarkt keine Beratung. Abends trinkt schon mal ein Glas Kölsch, aber Ausgelassenheit ist ihm fremd. Als Ministerpräsident nutzt er die sitzungsfreie Zeit über Karneval für Delegationsreisen in die USA.

NRW-Sieg machte Weg für die Kanzlerschaft von Merkel frei

Mit dem Erfolg von Jürgen Rüttgers in NRW sah auch Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) die Grundlage für seine Politik in Frage gestellt. Mit der vorzeitigen Auflösung des Bundestages war der Weg für die Kanzlerschaft von Angela Merkel geebnet. Aber es war der unheilvolle Einfluss aus Berlin, der Rüttgers um die Wiederwahl im Mai 2010 brachte.

Die Griechenland-Hilfen der Koalition in Berlin hatten eine fatale Wirkung. Er habe lange vorher darauf hingewiesen, dass die unpopulären Zahlungen nötig werden würden, erzählt Rüttgers. Die Bundesregierung zögerte jedoch und gab die umstrittene Entscheidung ausgerechnet unmittelbar vor dem Urnengang in NRW bekannt. Rüttgers ahnte, dass dies viele Stimmen kosten würde. Aber Angela Merkel schlug seine Warnungen in den Wind.

Interne Gegenspieler schadeten dem Image

Die Niederlage war aber auch hausgemacht. Weggefährten, die bei der Regierungsbildung 2005 nicht zum Zuge gekommen waren, sannen auf Rache. So kamen interne Mails an die Öffentlichkeit, die das Rüttgers-Umfeld diskreditierten. Auch die „Rent-a-Rüttgers-Affäre“ kostete Glaubwürdigkeit. Dabei ging es darum, dass die CDU-Geschäftsstelle Einzelgespräche mit dem Ministerpräsidenten in Rechnung stellen wollte.

Als Rüttgers nach dem Treffen in der Abtei feststellt, dass die Ausgangstür verschlossen ist, hilft er dem Reporter dabei, aus dem Fenster zu klettern und Hilfe zu holen. Dem Hausmeister, der Rüttgers befreit, ist der Vorgang sichtlich peinlich. Aber Jürgen Rüttgers lächelt milde. Wenn man 70 wird, bringt einen so schnell nichts mehr aus der Ruhe.

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