Der Münsteraner Politologe Norbert Kersting erklärt, warum die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen sogar international Beachtung findet.
„Herzinfarkt für die SPD“Politologe ordnet Kommunalwahl in NRW ein

Die Co-Vorsitzende der SPD, Bärbel Bas (SPD), schaut auf der Wahlparty der Duisburger SPD nach den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen auf ihr Smartphone.
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Herr Professor Kersting, was ist für Sie nach der Kommunalwahl die Erkenntnis des Abends?
Wer von dieser Wahl eine Signalwirkung erwartet haben sollte, wird sagen müssen: Das klare Signal gibt es nicht.
Das sagen Sie trotz einer Verdreifachung des AfD-Ergebnisses?
Ja, die destruktive Protestpartei hat zugelegt. Aber sie hat in vielen Städten und Gemeinden keine Kandidaten und Kandidatinnen aufgestellt, weil sie dafür gar nicht das Personal hatte. Und: Sie hat mit gut 16 Prozent ein deutlich schlechteres Ergebnis bekommen als noch in der Bundestagswahl vor wenigen Monaten.
Man könnte von einem Trend sprechen: Die CDU konsolidiert sich, bei der SPD geht die Erosion weiter.
Was schließen Sie daraus?
Dass das Interesse der Wählerinnen und Wähler an der Politik vor Ort eine ausschlaggebende Komponente bei einer Kommunalwahl ist. Natürlich wird man sich das jetzt für jede Stadt noch genauer anschauen müssen. Aber nochmal zurück zur Signalwirkung: Im Großen und Ganzen war erwartet worden, dass die Regierungsparteien in Berlin deutlich verlieren würden. Das ist ausgeblieben. Die CDU hat sich sogar mit einem guten Ergebnis behauptet. Da könnte man von einem Trend sprechen: Die CDU konsolidiert sich, bei der SPD geht die Erosion weiter.

Professor Norbert Kersting, Politikwissenschaftler an der Universität Münster
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Kann Bundeskanzler Friedrich Merz, der zugleich CDU-Chef ist, das für sich reklamieren?
Nein, dafür ist das Ergebnis der AfD dann doch zu gut. Die Wahl dieser Partei ist auch und vor allem Ausdruck der Unzufriedenheit mit „der Politik“ – und die wird in der Wahrnehmung der Menschen nun mal vor allem in Berlin gemacht.
Von der roten Herzkammer der Sozialdemokratie ist wenig übriggeblieben.
Die Grünen …
… haben einen Schlag ins Kontor bekommen. Darauf mussten sie sich einstellen, denn 2020 war ihr 20-Prozent-Ergebnis ein Ausreißer nach oben. Sie können jetzt noch auf den einen oder die andere grüne OB in den Großstädten hoffen, unter anderem in Köln, wo die Konstellation eine besondere war mit der parteilosen Henriette Reker an der Stadtspitze. Der Trend zu unabhängigen Kandidatinnen und Kandidaten bleibt im Übrigen bestehen.
Wenn man die Parteien rechts der Mitte einmal rechnerisch zusammenzählt, dann kommt man NRW-weit auf eine absolute Mehrheit. Ist das Land doch strukturkonservativ?
Westfalen war in weiten Teilen immer schwarz. Das Ruhrgebiet als Stammland der SPD hat darüber lange hinweggetäuscht. Aber von der roten Herzkammer der Sozialdemokratie ist wenig übriggeblieben.
Die Verwurzelung in den Milieus gibt es nicht mehr.
Ein Herzinfarkt für die SPD?
Das wird man so sagen können. Wenn ihre OB-Kandidaten – wonach es aussieht – in einzelnen Städten zur Stichwahl gegen einen AfD-Bewerber antreten müssen, ist das noch ein weiterer Schlag. Schon nach der Kommunalreform der 1990er Jahre mit der neuen Rolle der Oberbürgermeister und Bürgermeister hat man gesehen, dass viele Stammwähler von der SPD abgerückt und auch schon mal einen CDU-Politiker an die Stadtspitze gewählt haben. Das heißt: Die Verwurzelung in den Milieus gibt es nicht mehr.
Gilt das nicht auch für die CDU?
Doch. Im Münsterland, in Ost- und Südwestfalen als klassisch ländlich geprägten Regionen ist es auch für die CDU schwieriger geworden, ihre Klientel zu binden. Auch da gibt es eine wachsende Konkurrenz durch die AfD.
Ich werde von ausländischen Journalisten gefragt: Was passiert da jetzt in Deutschland?
Wie bewerten Sie die höhere Wahlbeteiligung?
Das ist erstmal ein erfreuliches Signal. Eine Mobilisierung von deutlich über 50 Prozent reicht schon fast an das heran, was man von Landtagswahlen gewohnt ist. Das ist übrigens etwas, was sogar international beachtet wird – natürlich auch wegen des Erfolgs der AfD. Ich werde von ausländischen Journalisten gefragt: Was passiert da jetzt in Deutschland?
Ich frage mal, was das AfD-Ergebnis für die Lokalpolitik im Alltag bedeutet.
Bisher haben sich die AfD-Vertreter in den Stadträten durch viel Destruktion und wenig Kompetenz ausgezeichnet. Die monothematische Fixierung auf die Migrationspolitik geht an den Themen vorbei, die klassischerweise in die Zuständigkeit der Kommunen fallen. Da geht es zu 90 Prozent und mehr um andere Fragen. Wenn die AfD dazu überhaupt Position bezogen hat, dann im Außenseitermodus mit Konzepten der 60er oder 70er Jahre. Die Verkehrspolitik ist dafür das beste Beispiel.
Heißt das, die anderen Parteien – egal wie künftige Ratsbündnisse dann aussehen werden – sollten die AfD auch weiterhin in dieser Außenseiterposition halten?
Wo es in 14 Tagen zu Stichwahlen der Bürgermeister- oder Oberbürgermeisterwahlen mit AfD-Beteiligung gibt, werden sich als erstes starke Bündnisse gegen die AfD formieren.
Und danach? Wie sollen die anderen Parteien auf Vorschläge der AfD reagieren – etwa in praktischen Fragen, die nicht per se ideologisch aufgeladen sind? Davon gibt es in den Städten und Gemeinden ja doch eine ganze Reihe.
Auf kommunaler Ebene wird es mehr Pragmatismus geben können. Aber nach aller Erfahrung kommt von der AfD wenig Konstruktives, was für die anderen Parteien anschlussfähig und handhabbar wäre. Das liegt auch an Kommunalpolitikern, die sehr weit am rechten Rand angesiedelt sind. Es gibt auch moderate Leute. Die AfD ist mit ihrem Personal eben sehr heterogen. Da werden wir auch noch Richtungskämpfe und womöglich Spaltungen erleben. Man muss sich auch klarmachen: Selbst mit Spitzenwerten von – sagen wir – 20 Prozent stellt die AfD gerade mal ein Fünftel der Ratsmitglieder. Dagegen lassen sich immer klare Mehrheiten bilden. Und noch eines: Für Ratsarbeit braucht es Kompetenz, Erfahrung und – viel Einsatz. In Ratsarbeit muss man sich ordentlich reinknien. Bei AfD-Stadträten war dazu bisher nicht viel Bereitschaft zu erkennen.
Zur Person
Norbert Kersting, geb. 1961, ist Professor für Vergleichende Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Kommunal- und Regionalpolitik an der Universität Münster. Mit seinem Institut hat er den „Wahlkompass“ entwickelt, eine Alternative zum bekannten „Wahl-o-Maten“ der Bundeszentrale für politische Bindung.
Als „Kommunalwahl-Navi“ ging unter anderem eine speziell auf Köln zugeschnittene Version online, die rund 50.000 Interessierte erreichte. Eine aktualisierte Fassung ist für die Kölner Stichwahl am 28. September geplant.