Interview mit Jasmin Tabatabai und Natalie AmiriIran: „Die Menschen haben keine Luft mehr zum Atmen“

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Bildkombination vor iranischer Flagge und Stacheldraht: Schauspielerin Jasmin Tabatabai und Journalistin Natalie Amiri    über die Proteste im Iran und die Brutalität des Mullah-Regimes

Schauspielerin Jasmin Tabatabai und Journalistin Natalie Amiri über die Proteste im Iran und die Brutalität des Mullah-Regimes

Im Interview sprechen die Schauspielerin Jasmin Tabatabai und die  Journalistin Natalie Amiri über die Proteste im Iran und die Brutalität des Mullah-Regimes.

Frau Tabatabai, Sie sind als Tochter eines Iraners und einer Deutschen im Iran aufgewachsen und mit zwölf Jahren nach Deutschland gezogen. Wann waren Sie zuletzt im Iran?

Jasmin Tabatabai: 1987, zur Beerdigung meines Vaters. Er starb an einem Herzinfarkt, als ich 19 war. Ich habe dort eine der dunkelsten Perioden der Islamischen Republik erlebt. Es war sehr streng, man wurde auf der Straße permanent korrigiert, ob ein Haar rausschaut. Die Islamische Republik hat ihre Macht durch große Säuberungswellen gefestigt. Die gesamte politische Linke wurde verfolgt und verhaftet, 1988 gab es Tausende von Hinrichtungen. Jetzt haben alle Angst, dass die nächste große Hinrichtungswelle kommt. Mir wurde damals klar, dass ich nicht mehr zurückkann – auch, weil ich Schauspielerin werden wollte. In meinem ersten Film war ich unverschleiert, es gab eine Kussszene. Als der Film in Pakistan auf einem Festival gezeigt wurde, teilte mir der Produzent anschließend mit, iranische Offizielle hätten ihm gesagt: „Jasmin ist zu weit gegangen.“

Frau Amiri, Sie haben das ARD-Studio in Teheran geleitet. 2020 mussten Sie zurück nach Deutschland, um Ihr Leben nicht zu riskieren. Was war passiert?

Natalie Amiri: Das Auswärtige Amt hat meinen Sender gewarnt, ich könnte als politische Geisel genommen werden im Zuge der verhärteten Verhandlungen beim Atomabkommen. Ich habe zwei Pässe und bin im Iran nur als Iranerin anerkannt. Die deutsche Bundesregierung hätte mir noch nicht einmal konsularischen Beistand gegeben.  Daraufhin hat der Sender mich abgezogen.

Hätten Sie unter diesen Bedingungen denn bleiben wollen?

Amiri: Mir ist im Iran schon die Ausreise verweigert worden, mir wurde mein Pass abgenommen, ich wurde vom Geheimdienst verhört und bedroht. Diese Gefahr habe ich als Journalistin in Kauf genommen. Wenn man vor Ort sein will, riskiert man dadurch auch jeden Tag, im Gefängnis zu landen. Wer es nicht riskiert, kann nicht über das Leid vor Ort sprechen. Es ist ja gerade das Kalkül des Regimes, dass das Interesse im Westen abflacht, wenn sich die internationalen Journalisten zurückziehen müssen, wenn das Internet gedrosselt und die Kommunikationswege blockiert werden wie jetzt Instagram und Whatsapp. Es sollen keine Nachrichten aus dem Land dringen.

Trotz der Isolierung dringen immer wieder verstörende Videos aus dem Iran zu uns. Was wissen Sie über das Ausmaß der Gewalt in diesem Land?

Amiri: Das gesamte Ausmaß der Brutalität des Regimes gegen Protestierende und Opposition können wir nicht abschätzen. Aber wir bekommen täglich Videos aus dem Iran, die man kaum ertragen kann, von toten und verhafteten Menschen. Die Dunkelziffer ist riesig. Wer keine große Reichweite hat, wer im Ausland nicht bekannt ist, geht in den Gefängniszellen einfach unter. Als es 2009 im Iran die „Grüne Bewegung“ gab, war ich damals täglich auf der Straße, um über die Proteste zu berichten, die ebenfalls brutal unterdrückt wurden. Die Menschen, die ich von damals kenne, sagen mir: 2009 war ein Kindergarten im Vergleich zu dem, was gerade passiert.

Tabatabai: Was wir sehen, ist nur ein Bruchteil dessen, was hinter geschlossenen Türen passiert. Bei den Ereignissen im Evin-Gefängnis im Oktober wurde offiziell von acht Toten gesprochen. Jetzt kommt langsam heraus, dass es ein schreckliches Massaker war.

Warum entwickeln die Proteste derzeit eine solche Kraft? Was kommt da zusammen?

Amiri: Eine Menge. Wir haben allein im ersten Halbjahr 2022 mehr als 2200 Proteste beobachtet. Weil kein Gehalt oder keine Renten ausgezahlt wurden, gegen Vetternwirtschaft, Korruption, Dürre und Wasserknappheit. 2009 bei der „Grünen Bewegung“ waren Hunderttausende auf den Straßen, das war vor allem die Mittelschicht. 2019 war es dann die arme Bevölkerung, die zunächst gegen die hohen Benzinpreise protestierte. Und jetzt ist es ein Querschnitt der ganzen Gesellschaft, angeführt von Frauen und der Generation Z. Ethnische Minderheiten. Generationsübergreifend. Das ist gefährlich für das Regime: Es hat zum ersten Mal alles zu verlieren und steht einer Bevölkerung gegenüber, die nichts mehr zu verlieren hat. Wenn man auf die Straße geht, obwohl man erschossen, gefoltert oder vergewaltigt werden kann, wer so viel riskiert, der hat alles auf eine Karte gesetzt.

Sie sterben lieber, als unter diesem Regime weiterzuleben.

Amiri: Ja. Die Menschen haben keine Luft mehr zum Atmen. In der schlimmsten Phase der Islamischen Republik in den 80er Jahren war der heutige iranische Präsident mitverantwortlich für die Massenhinrichtungen an mehr als 4000 Oppositionellen. Es war zu erwarten, dass er eine radikale, erzkonservative und frauenverachtende Politik umsetzt. Plötzlich trat wieder überall die Sittenpolizei auf.

Es protestieren auffällig viele Frauen in den ersten Reihen.

Amiri: Sie werden am meisten diskriminiert. Eine Frau ist laut der Scharia, dem islamischen Gesetz, nur halb so viel wert wie ein Mann, als Zeugin zum Beispiel vor Gericht. Sie haben ein sehr eingeschränktes Sorgerecht für ihre Kinder, kein Scheidungsrecht, kein Ausreiserecht. Sie müssen ihren Mann fragen, ob sie arbeiten dürfen. Sie dürfen nicht wählen. Die iranischen Frauen sind trotz all dieser Einschränkungen enorm emanzipiert, sie haben sich trotzdem aller Diskriminierung hochgekämpft. Die Mullahs wollten sogar eine Männerquote an den Universitäten einführen, weil es mehr Hochschulabsolventinnen, als Absolventen gab.

Tabatabai: Niemand, der den Iran und die iranischen Frauen kennt, ist auch nur ein bisschen verwundert, dass die Frauen in der ersten Reihe stehen.  Die iranischen Frauen sind unglaublich stark und gebildet. Sie haben schon vor langer Zeit begriffen, dass Bildung eine Waffe ist. Als meine Nichten, die heute in ihren Dreißigern sind, damals Abi gemacht haben und zum Studium nach Deutschland kamen, war für sie völlig klar, dass sie einen Studiengang wählen, der sie ermächtigen wird in der von Männern dominierten Welt. Biologie und Medizin, nicht schöne Künste und Schauspielerei wie wir. Und sie sind hartnäckig: Schau dir an, wie Frauen in allen anderen arabischen Ländern rumlaufen müssen, die die Scharia haben. Die Iranerinnen hatten es geschafft, nur mit einem Tuch im Haar rumlaufen zu müssen.

Welche Rolle spielt das Kopftuch bei den Protesten?

Tabatabai: Selbst die traditionellen Frauen, die jetzt im Tschador auf der Straße für ihre Kinder und Enkel kämpfen, dafür, dass dieses Regime gestürzt wird, denken modern. Was mir bei den Protesten gerade extrem auffällt: Das Regime verliert auch bei den Gläubigen den Rückhalt. Die verachten zutiefst, dass sich die Machthaber bereichern bis zum Geht-Nicht-Mehr, dass sie ihre Kinder im Ausland großziehen, die dort ein völlig dekadentes Leben führen.

Amiri: Das Kopftuch gilt zwar als ein Symbol für die jahrelange Unterdrückung, aber die protestierenden Frauen gehen Hand in Hand auf der Straße, egal ob sie Kopftuch und Tschador tragen, oder kein Kopftuch. Es sind keine Kopftuch-Proteste. Die Iraner haben auch kapiert, dass sie sich nicht spalten lassen dürfen. Diese Angstmache vor einer Spaltung ist Teil der Propaganda der Islamischen Republik Iran. Auch diejenigen, die die Bundesregierung beraten, haben immer davor gewarnt, dass der Iran ein Vielvölkerstaat ist, dass er zersplittern wird, dass es separatistische Bewegungen gibt. Damit hat man Angst geschürt, sich gegen das Regime zu positionieren. Das zerbricht gerade.

Wie gefährlich ist es für die Exil-Iraner, sich bei Demos im Ausland öffentlich positionieren?

Tabatabai: Kürzlich wurde ein friedliches, angemeldetes Protestcamp vor der iranischen Botschaft in Berlin mitten in der Nacht angegriffen. Mit Messern und Knüppeln, es gab Verletzte. Die Polizei war von der Situation überfordert und hat erst sehr viel später eingegriffen. Deswegen fordere ich wie viele andere: Die iranischen Botschaften müssen geschlossen werden.

Amiri: Der iranische Geheimdienst filmt in Deutschland Demonstrationen, um Menschen zu identifizieren. Oppositionelle leben auch im Ausland gefährlich. Masih Alinejad, eine iranische Oppositionelle in New York, die Millionen Follower hat, sollte letztes Jahr vom Geheimdienst entführt werden, ein Anschlag wurde vereitelt. Aber viele, die jahrzehntelang nichts gesagt haben, weil sie weiterhin in ihre Heimat zurückreisen und ihre Familie besuchen wollten, setzen jetzt alles auf eine Karte. Sie sagen: Dann sehen wir unsere Familie vielleicht nicht mehr. Jetzt oder nie. Wir müssen laut sein.

Erreicht es die Menschen im Iran, wenn wir Solidarität in den sozialen Netzwerken zeigen oder demonstrieren?

Tabatabai: Auf jeden Fall. Ich erhalte extrem viele Zuschriften. Die Menschen im Iran betonen immer wieder, wie dankbar sie dafür sind, wahrgenommen zu werden. Es ist ihre einzige Chance, ihr einziger Schutz. Meine deutschen Freunde haben alle verstanden, dass es um weit mehr geht als den Hidjab. Es geht um Menschenrechte und die Frage, wie unsere Welt in Zukunft aussehen soll.

Olaf Scholz hat jüngst bei Twitter angekündigt, weitere Sanktionen zu prüfen. Wie bewerten Sie das Verhalten der Bundesregierung?

Amiri: Es ist beschämend, dass sich der Bundeskanzler bislang kaum zum Iran geäußert hat und er lediglich einen Tweet absetzt zu einer beispiellos brutalen Niederschlagung von Protesten in einem uns nicht weit entfernten Land. Darüber herrscht nicht nur bei den Exil-Iranern in Deutschland großes Entsetzen. Sich derart reduziert zu äußern angesichts einer Zivilgesellschaft, die zu weiten Teilen säkular eingestellt ist, die einen freien Iran fordert und dafür ihr Leben ihr Leben aufs Spiel setzt, macht mich fassungslos. Die Menschen dort tun uns einen großen Gefallen: Der Iran ist der verlängerte Arm Russlands. Er will Mittelstreckenraketen nach Russland liefern, liefert bereits Drohnen, die gegen die Ukraine eingesetzt werden. Der Iran ist einer der wichtigsten Wirtschaftspartner Russlands geworden und lehrt die Russen darin, wie man Sanktionen umgeht.

Was wünschen Sie sich für den Iran?

Tabatabai: Mein Traum ist ein freier, demokratischer, sekulärer Iran mit einer Frau als erster Präsidentin. Ich halte das für absolut realistisch, obwohl es ja gerne heißt, es gebe keine iranischen Führungspersönlichkeiten.  Ich sage: Macht doch einfach mal die Augen auf, wir haben viele herausragende und kluge Köpfe. Es ist politisch sicher sehr bequem, zu sagen: Wir sehen niemand anderen, darum machen wir lieber mit den Mullahs Geschäfte. Aber das ist eine Illusion. Eine Regierung, die sich nur über brutalste, schreckliche Gewalt erhalten kann, ist nicht stabil. Die Mullahs destabilisieren zudem die gesamte Region im Nahen Osten. Wie lange wollen wir uns das eigentlich noch mit ansehen?


Zu den Personen:

Jasmin Tabatabai, Jahrgang 1967, ist Sängerin und Musikerin und lebt in Berlin. Ihr Vater ist Iraner, ihre Mutter Deutsche. Tabatabai wuchs im Iran auf und zog mit 12 Jahren nach Deutschland.

Natalie Amiri, Jahrgang 1978, ist Journalistin, ihr Vater ist Iraner. Sie leitete bis 2020 das ARD-Studio in Teheran. Über ihre Zeit im Iran hat sie das Buch „Zwischen den Welten. Von Macht und Ohnmacht im Iran“ geschrieben.

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